Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug

 Die Helden der 68er sind alt geworden. Hochgeachtet und etabliert klopfen sie sich gegenseitig auf die Schulter und singen das Loblied der „zweiten Gründung der Bundesrepublik“. Nur wenige haben den klaren Kopf behalten, um den Licht- und Schattenseite dieser Kulturrevolution aus der historischen Distanz gerecht zu werden. Zu diesen unabhängigen Geistern gehört der Germanist Helmut Lethen, der mit dem vorliegenden Buch seinen Lebensrückblick vorgelegt hat.

Dieser Lebensrückblick ist allerdings mehr Werk- und Denkgeschichte als Biografie. Auch wenn der Leser amüsiert von der „heiligen Jacke“ Rudi Dutschkes liest, die der Autor auf einer Demo in Berlin für zehn Minuten tragen durfte, um die Polizei zu verwirren – diese und andere Episoden sind nur Beiwerk einer  intellektuellen tour d´horizon durch ein halbes Jahrhundert bundesrepublikanischer Mentalitätsgeschichte. In dieser Zeit absolviert der Autor eine deutsche Akademikerkarriere, die ihn von Bonn über Amsterdam an die Berliner FU führte, wo er sich als maoistischer Aktivist auslebte, ehe er ab 1977 als Professor für Germanistik und Kulturwissenschaft in Utrecht lehrte.  Nach der Veröffentlichung seines Hauptwerkes „Verhaltenslehren der Kälte“ erhielt  er 1995 einen Ruf als Professor für neue deutsche Literatur  nach Rostock. Von 2007 bis 2016 leitete er das  Internationale Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien, außerdem war er zeitlebens ein gern gesehener Gast auf den germanistischen Symposien der Welt zwischen Chicago und Seoul. (Wer sich für Einzelheiten des Lethen´schen Lebenslaufes interessiert, der lese hier)

Der Leser, der Helmut Lethen auf dieser Lebensreise begleitet, geht es wie einem Radiohörer, der schnell nacheinander unterschiedliche Sender einstellt. Kunterbunt geht es vom Marxismus und Maoismus, über den Konstruktivismus und Essentialismus zu den modernen Diskusathleten, die ihre phantastischen Pirouetten am soziologischen Hochreck vollführen. Diese literarische Vielfalt wird ergänzt durch einen ganzen who´s who der germanistischen Gegenwartskultur, von denen fast jeder mittlerweile als zuverlässige Stütze des Zeitgeistes sein Geld  verdient.

Nicht so Helmut Lethen. Obwohl mit den Irrungen und Wirrungen des postmodernen Mainstreams bis in die kleinesten Verästelungen vertraut, erweist er sich von Anfang als eigenwilliger, origineller Kopf, der in den Werken  von Brecht, Jünger, Plessner, Gehlen und Adorno zu Hause ist. Dementsprechend überragt Lethens Hauptwerk „Verhaltenslehren der Kälte“ den Horizont seiner linken Mitstreiter bei weitem. Gerade im Abstand der Jahre entpuppen sich die Verhaltensmaximen dieses Buches als ein beispielhaftes Manifest für die kühl-distanzierte Selbstverantwortung des Wissenschaftlers im Angesicht brennender Leidenschaften. Ähnlich differenziert behandelt er die Frage nach der Verantwortung des Prominenten im totalitären NS- Staat in seinem Buch „Die Staatsräte“.

Kein Wunder, dass Lethen in der Retrospektive manche Züge der 68er einer (wenngleich sehr zarten) Kritik unterzieht. Rückblickend schämt er sich für seine juvenilen  Akte des Vandalismus  und wundert sich nachträglich über völlige Erfahrungsleere seiner Generation, was die wahren Zustände etwa in China und anderen Auenländern der sozialistischen Phantasie betraf. Obwohl er sich gegen den sogenannten „Essentialismus“ verwahrt, geht ihm der immer absoluter herrschende Konstruktivismus doch zu weit, weil diese Perspektiven dabei sind, die unverzichtbaren Bestände der kulturellen und sozialen Welt  als bloße Konventionen zu denunzieren.

Soweit so betulich. Richtig spannend und aktuell wird es erst gegen Ende des Buches, als der Autor auf einen innerfamiliären Dissens zu sprechen kommt, der seine Privatsphäre  in den letzten Jahren in das grelle Licht der Öffentlichkeit rückte. Die Rede ist von Helmut Lethens Gattin, der promovierten Philosophin Caroline Sommerfeld, die mit Helmut Lethen seit 1997 verheiratet ist und mit ihm drei gemeinsame Kinder hat. Unter dem Eindruck der Merkel´schen Grenzöffnung vollzog Caroline Sommerfeld zum Entsetzen ihres Gatten und ihres rotgrünen Umfeldes einen entschiedenen Schwenk nach  rechts.  Während der Autor bis heute die sogenannte Flüchtlingspolitik mit moralischen und emotionalen Argumenten bejaht, die im Grunde quer zum Tenor seinen  „Verhaltenslehren der Kälte“ stehen, erkennt seine Gattin in den medial immer neu inszenierten Apellen zur Flüchtlings-Empathie eine bewusst konstruierte  Nötigung, die das abstrahierende Denken ausschalten soll. Dass sich Caroline Sommerfeld in der Folgezeit der rechtsintellektuellen Zeitschrift „Sezession“ anschloss und zusammen mit Martin Lichtmesz das Buch „Mit Linken leben“  veröffentlichte, brachte die linkskoordinierte Ausgrenzungsroutine in Schwung, die dazu führte, dass die Wiener Waldorfschule die beiden Söhne des Ehepaares wegen der politischen Haltung der Mutter von der Schule verwies. Merkwürdigerweise wird dieser politische Skandal in dem vorliegenden Buch nur in einem einzigen Satz erwähnt – und dass, obwohl die Affäre mittlerweile auf der Grundlage eines krass parteilichen FAZ-Artikels eine völlig schiefen Niederschlag in der Wikipedia-Öffentlichkeit gefunden hat.

Dafür lässt sich der Autor wenigstens ansatzweise auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den rechtsintellektuellen Positionen seiner Gattin ein, die zu den spannendsten Teilen des Buches gehört, auch wenn dem Autor die Widerlegung der Positionen seiner Gattin nicht wirklich gelingt.  Denn bei allem Respekt vor dem großen Germanisten Helmut Lethen fragt sich der Leser nach der Lektüre der entsprechenden Passagen doch, ob dem Autor am Ende seines Forscherlebens nicht in Gestalt seiner Frau eine überzeugende Vertreterin jener Wirklichkeit gegenübertritt, die der dekonstruktivistische Zeitgeist mit seinen Phantastereien mehr und mehr vernebelt hat.

 

Kommentar verfassen