Zu den Völkern, die unter den Traumata des vergangenen Weltkriegsjahrhunderts am nachhaltigsten leiden, gehören nicht nur die Deutschen sondern auch die Ungarn – allerdings mit einem bezeichnenden Unterschied. Während die Deutschen die ständige öffentliche Erinnerung an ihre geschichtlichen Verfehlungen wie eine Monstranz vor sich hertragen, kann man bei den Ungarn über alle politischen Lager hinweg eine immerwährende Klage über das himmelschreiende Unrecht vernehmen, dass ihnen angetan wurde.
Tatsächlich hat der Diktatfriede von Trianon im Jahre 1920 das großungarische Reich auf ein Drittel seiner Größe reduziert. Er hat zwar die unterdrückten Slowaken, Rumänen, Kroaten und Serben befreit, aber auch Millionen Ungarn, fast ein Drittel der ungarischen Nation, fremden Staaten inkorporiert. Übertragen auf deutsche Verhältnisse muss man sich das so vorstellen, als wären nach dem ersten Weltkrieg 20 Millionen Deutsche fremden Staaten zugesprochen worden. Kein Wunder, dass die gesamtge ungarische Geschichte seit 1920 unter dem Einfluss dieser nationalen Amputation stand. Bis auf den heutigen Tag und selbst noch inerhalb der Europäischen Union vergiften die Nationalitätenkonflikte, die Ungarn mit seinen Nachbarstaaten Slowakei und Rumänien ausficht, das politische Klima im Donauraum.
Die ungarische Kränkung als Generalmelodie der Nationalgeschichte zwischen 1920 bis 2010 ist eines der Hauptthemen des vorliegenden Buches: Ungarn ist in der Sichtweise des Autos seit 1920 eine gebrochene und deswegen uneberechenbare Nation geworden. Das ist umso prekärer, weil sich diese Verstümmelung an einem Nationalcharakter ereignet hat, der seit Stephan dem Großen für sich selbst Züge der Außergewöhnlichkeit und der Erwählung in Anspruch nahm. Dass bei einer solchen Verfasstheit Antisemitismus, Minderheitenfeindlichkeit und Chauvinismus nicht weit sind, findet der Autor wenig überraschend. Wie oft die Ungarn dabei nach Lendvais Meinung ihr Land „verspielt“ haben, ist auf den ersten Blick gar nicht auszumachen – sie haben es verspielt als unterlegene Kriegspartei im Ersten Weltkrieg, die haben es wieder verspielt als Bündner der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg, sie haben es drittens verspielt, als der Kommunismus das Land zwei Generationen lang verproletarisierte, und sie haben es nach der großen Wende von 1989 wieder verspielt, als sie ihren ökonomischen Vorsprung innerhalb der EU-Beitrittskandidaten durch eine verantwortungslose Verschuldungspolitik wieder aufgaben.
Die letzte Phase der ungarischen Gegenwartsgeschichte führte in der Bewertung des Autors geradewegs zum überwältigenden Wahlsieg der Fidesz-Partei und zum Aufstieg des charismatischen Politikers Vikor Orban, der noch im letzten Jahr mit seinen Verfassungsänderungen und seiner radikalen Neubesinnung auf die Werte von Tradition und Nation die postnationalen Eliten Europas nachhaltig schockierte. Folgt man dem Autor, dann ist diese letzte Volte auch wieder nur eine Variante des ewigen Verspielens von Schicksalschancen, die wie ein Fluch über Ungarn liegt.
Ich habe das vorliegende Buch im Vorfeld einer Ungarnreise mit großem Interesse gelesen. Es ist ansprechend aufgemacht, gut lesbar geschrieben und über ein sehr umfangreiches Namensregister vorbildlich erschlossen. Vor allem die Beschreibung der ökonomischer Zusammenhänge der späten Kadar-Zeit, der Neunziger Jahre und des drohenden Staatsbankrottes im Vorfeld der Wahlen von 2010 gehören zum Besten, was ich über diese Sachverhalte bisher gelesen habe. Politisch macht Lendvai aus seiner Sympathie für die Linke keinen Hehl, aber geht niemals soweit, seine Fakten einseitig und parteiisch auszuwerten. Dass sich die Ungarn inmitten der europäischen und weltgeschichtlichen Umbrüche des 21. Jahrhunderts auf ihre eigene Geschichte besinnen und dies auch ausdrücklich in ihre neue Verfassung schreiben, ist dem Autor als Kosmopoliten allerdings ein einziger Gräuel – denn nur so ist der merkwürdige letzte Satz des vorliegenden Buches zu verstehen.“Am Chauvinismus ist nicht so sehr die Abneigung gegen fremde Nationen wie die Liebe zur eigenen unsympatisch.“(S.228)