Linn Ulmann: Gnade

Im Augenblick des Todes will Johan Stetten keinen mittelmäßigen Roman lesen, er will keinen Kalender sehen und auch keine Morphiumspritze. Der Augenblick des Todes, so denkt er, ist „die Zeit für  Meisterwerke“ – für „Macbeth“, „Krieg und Frieden“, für die Zauberflöte und die Bach´schen Choräle. Doch in Wahrheit ist der Augenblick des Todes für Johan Stetten nur der Abschluss eines mittelmäßigen Lebens, dessen Durchschnittlichkeit in letzter Konsequenz zu erkennen fast so schlimm ist wie das Sterben selbst. Das ist die eine, die erzieherische und anspruchsvolle Seite des Todes. Die andere Seite besteht aus Angst und Kopfschmerzen, aus Schlaflosigkeit und Einsamkeit, einer schrecklichen Eiterwunde im Gesicht und misslungenen Operationen. Diese Seite des Sterbens  hat nichts Erzieherisches oder  Anspruchsvolles, sie ist einfach nur ein grauenhaftes Ungeheuer, das ihn jeden Tag ein Stück mehr überwältigt.

So weit das Schicksal, das Johan Stetten, der Durchschnittliche, stellvertretend für jeden andren Menschen auf der Welt durchleidet. Aber neben dieser anspruchsvollen und kreatürlichen Todesthematik erlebt er noch ein drittes: die „Gnade“, das Geschenk der Liebe seiner Frau Mai, die  nicht nur die letzten dreiundzwanzig Jahre  sondern auch die letzten Monate das Leben von  Johan Stetten erleuchtete. Diese Liebe, „die wie klares Wasser ist, von dem man ständig trinken möchte“, war über Johan Stetten gekommen wie ein unverdientes Geschenk, begleitet von einer tagtäglichen, leicht verwunderten  Freude darüber, warum gerade er es ist, der so geliebt wird. Als die kreatürliche Seite des Sterbens immer schrecklicher wird, als Johan „die Kontrolle verliert“, vollbringt Mai  ihren letzen Liebesdienst und verabreicht ihrem Mann die Todesspritze, um ihm einen Tod mit einem letzten Rest von Würde zu ermöglichen.

Es ist eine traurige und ergreifende Geschichte, die Linn Ullmann aus der Perspektive  des sterbenden Johan Stetten mit vielen zeitlichen Rückblenden erzählt, ein  Roman, dem es gelingt, den Leser  schon auf den ersten Seiten für   die Hauptperson zu interessieren und in eine Entwicklung einzubeziehen, an deren Ende der Tod stehen wird.  Als dieses Ende eingetroffen ist, weiß, man plötzlich gar nicht mehr so  recht, ob man   eine Tragödie oder ein Märchen gelesen hat, denn so schrecklich wie Johans Sterben war so gnadenvoll und wunderbar war die Liebe, die ihm in Gestalt seiner Frau zuteil geworden ist. Ein Buch nicht unbedingt für Sterbende, wohl aber für  die Zurückgebliebenen, die das Beste getan haben, einen Gatten, einen Freund, ein Elternteil auf dem letzten Weg zu begleiten.

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