An einem ungewöhnlich milden Novemberabend trafen sich die Literaturinteressierten in der Buchhandlung Mönter in Osterath. Thema des Abends war die Vorstellung des neuen Buches von Sigrid Löffler „Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler“ durch die Autorin selbst. Die Buchhandlung war gut gefüllt, was bei dem erklecklichen Eintrittspreis von 15 Euro bemerkenswert war. Nach einer kurzen Vorstellung durch Herrn Mönter erkletterte Frau Löffler im Mantel und mit einem wallenden Shawl um den Hals ein leicht erhöht gebautes Stehpult an der Stirnseite des Raumes Ihr Haar war schneeweiß, ihre Haut hatte die Farbe hellen Porzellans, und keine einzige Falte war auf ihrem alterslosen Gesicht zu sehen. Aufrecht auf dem Podium stehend sprach sie relativ frei, ließ immer wieder ihren Blick über das Publikum schweifen und unterstützte ihre Ausführungen mit wenigen. aber treffenden Gesten.
Frau Löffler begann ihre Buchvorstellung mit der These, dass sich heute etwa ein Drittel der Menschheit in Bewegung befände. Das konnte ich bestätigen, denn immerhin war ich für diese Lesung fast einhundert Kilometer von Bonn nach Osterrath gefahren. Wir leben also in einer Epoche der Migration, wie noch niemals vorher in der Geschichte der Menschheit. Diese epochale Entwicklung spiegele sich auch in einer neuen „Weltliteratur“ wieder, die Frau Löffler abweichend vom goetheschen Begriff der Weltliteratur („Höhenkammliteratur“) als „Literatur von Migranten“, also als „Migrationsliteratur“ kennzeichnete. Migrantenautoren, die an der Grenze der Kulturen existierten, würden wie Seismografen diese Wandlungen literarisch widerspiegeln, mit anderen Worten: sie beschäftigten sich mit dem Thema unserer Zeit, was viel interessanter sei als der x-te Beziehungsroman aus einer Berliner Wohngemeinschaft. Darüber hinaus war Frau Löffler der Auffassung, dass die großen Migrationsliteraten auch Trendsetter für eine neue transkulturelle globalisierte Identität seien, die sich hoffentlich bald allgemein herausbilden und ältere, vormoderne Formen hinter sich zurücklassen würde. Beispiele für solche Autoren, die in diese Richtung wirkten, waren für sie Naipaul, Rushdie, Ondaatje, Achebe, Hamid und einige afrikanische Autoren, deren Namen sich kein Mensch merken konnte, allerdings auch Doris Lessing und Coetzee, was überraschte. Nebenbei wurde deutlich, dass Frau Löffler das Phänomen der weltweiten Massenmigration sehr positiv bewertete, wofür sie verschiedene Belege anführte. Aus einem heruntergekommenen bengalischen Viertel im Norden Londons sei zum Beispiel heute ein wohlhabender gentrifizierter Bezirk geworden, die Nachkommen der ersten Einwanderungswelle, die aus der Karibik nach London kamen, seien heute Angehörige der britischen Mittelschicht. Komisch dachte ich, waren die Plünderer von Hackney und Tottenham, alle nur authochtone Briten? Und wuchsen in Duisburg-Marxloh die trendsettenden Literaten der Zukunft heran? Wie dem auch sei: Am Ende festigte sich der Eindruck, für Frau Löffler die „neue Weltliteratur“ nicht nur in allerhöchstem Maße lesenswert sondern eine Art Vorschein einer neuen globalisierten und wünschenswerten Weltidentität.
Nach den Dankesworten von Herrn Mönter und der Büchersignatur nahm Frau Löffler in sehr freundlicher Weise die Einladung unseres Lesekreises auf ein Getränk zur Nacht im nahe gelegenen Lokal an. Bei Rotwein, Weißwein und Bier wurde das Thema der neuen Weltliteratur weiter gesponnen, allerdings nicht unbedingt vertieft. Eine Frage, ob die massenhafte Zuwanderung nicht bestimmte Menschenrechtsstandards wie etwa die Gleichberechtigung der Frau in Frage stelle und ob man deswegen diesen epochalen
Kulturvermischungsprozess nicht auch kritisch sehen könne, wurde etwas vage dahingehend beantwortet, dass sich diese Entwicklung „schon auswachsen“ würde. Ein zweiter nachsetzendem Hinweis, dass die Ausbildung der prognostizierten neuen Identität doch wohl nur auf dem „Plateau westlicher Liberalität“ funktionieren könne, stimmte Frau Löffler dann doch zu, womit deutlich wurde, dass die neue Weltliteratur in der Thematik vielleicht neu war, sich in aber in ihrer wertenden Ausrichtung stark an westlichen Vorbildern orientieren würde.
Weiteren Nachfragen in diese Richtung wich frau Löffler aus, was nach einem so langen Tag natürlich alle verstehen konnten. Sie nippte stattdessen verhalten an ihrem Rioja und ließ sich lieber von unserem Lesekreis erzählen, seinen Regeln, Prozeduren und Titeln und zeigte sich überrascht im Hinblick auf die Vielfalt der Themen und Autoren, die im Lesekreis diskutiert würden. Als absoluten Knüller dieses Herbstes empfahl sie das das Buch „Kruso“ von Lutz Seiler, das zwar ein wenig „eklig“ sei, aber ansonsten sprachlich und formal höchsten Anforderungen gerecht würde. Auch der dritte Band der großen Kafka Biographie von Reiner Stach fand Frau Löfflers Anerkennung, denn in diesem Buch kämen Lebensbeschreibung und Kulturgeschichte wunderbar zur Deckung.
Der Abend klang in heiterer Stimmung aus, und wir verabschiedeten uns vor dem Lokal. Frau Löffler entschwand in ihr Hotel in Osterath, um sich auf nächste Lesung in Dormagen vorzubereiten.