Lottmann: Alles Lüge

Innerhalb der deutschen Literaturszene spielt Joachim Lottmann in etwa die gleiche Rolle wie Jan Fleischhauer beim Spiegel. Er haut mit seiner abweichenden Meinung mächtig auf die Pauke und gehört trotzdem dazu. Wie ist das möglich? Literarische Begabung allein kann das nicht erklären. Im Fall von Lottmann kommt dreierlei hinzu: gute Vernetzung, ironische Distanz als Weichzeichner unbequemer Wahrheiten und die Beachtung bestimmter Grenzen, die letztlich auch für Lottmann oder Fleischhauer gelten.

„Alles Lüge“, der neueste Roman von Joachim Lottmann verdeutlicht dieses Erfolgsrezept in ganz besonderer Weise. Johannes Lohmer, die Hauptperson des vorliegenden Romans und das unverkennbare Alter ego des Autors, ist ein erfolgreicher Schriftsteller, der sein Leben in einer deutsch-österreichischen Komfortzone aus Zweitwohnung, Cabrio, Galas und Verlagsempfängen verbringt. Arriviert und hinreichend fortschrittlich wie viele seiner Schriftstellerkollegen, könnte das Leben so wunderbar sein, wenn sich Lohmer nicht mit einem linksuntypischen Gebrechen herumschlagen würde: Angesichts der Integrationsverweigerung vieler Flüchtlinge und der Zunahme des islamistischen Terrors in Europa zweifelt er plötzlich an der Weisheit der deutsch-österreichischen Flüchtlingspolitik! Doch so oft er auch in aller Vorsicht seine Vorbehalte vorträgt, so penetrant wird ihm mit dem Doppelcredo der herrschenden „Refugee Welcome“-Ideologie geantwortet: „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“; oder: „Wirkliche Gefahr geht nur von den Rechten aus“. Lohmer ist viel zu intelligent, um diesem Mantra zu glauben – aber auch zu vorsichtig, die aufgezeigten Grenzen zu mißachten. So geht er in Deckung – und das gleich doppelt. Privat redet er seiner linken, strikt feministischen und bildschönen Journalisten-Gattin nach dem Munde, weil sie ihn sonst nicht mehr an ihren Luxusleib lassen würde. Und öffentlich zieht er sofort den Kopf ein, wenn es einem anderen, wie etwa dem Welt-Journalisten Matthias Matussek, wegen dessen Islamkritik an den Kragen geht.  In der Nachzeichnung dieses Dauerappeasements, dem sich Lohmer im persönlichen und beruflichen Interesse unterziehen muß, liegt der erzählerische Schwerpunkt des Buches. Leicht ironisch in der Diktion, gut lesbar und peppig, entfaltet der Autor das Bild einer von der Lebenswirklichkeit der normalen Bevölkerung völlig abgekoppelten, aber gut versorgten Medienelite, die noch an den gewaltlosen Islam glauben wird, wenn die Dschihadisten bereits ihre Treppenhäuser hochstürmen werden. Es ist eine Welt aus lauter Jakob  Augsteins, Navid Kermanis, Ulf Poschardts, in der man sich kennt und schätzt, niedermacht und promotet und dabei peinlich darauf achtet, innerhalb der politisch korrekten Vorgaben zu bleiben. „Der linke Mainstream hatte sich in der Flüchtlingsfrage stärker und schneller radikalisiert als der rechte Stammtisch“, resümiert Lohmer. „Wer das Wort ‘Flüchtlinge’ öffentlich in den Mund nahm und nicht umgehend auch ‘Hurra’ schrie, war medial erledigt.“ War man erst einmal wegen kritischer Äußerungen zum Islam aufgefallen, blieb einem nur noch, umgehend coram publico und demonstrativ in einem der großen Blätter vor der „Islamophobie“ zu warnen. Ein Schelm, wer hier an die Distanzierung Sloterdijks von seinem früheren Mitarbeiter Marc Jongen denkt. Schon allein wegen solcher Sententzen ragt „Alles Lüge“ turmhoch über politisch streng korrekte Erbauungsliteratur wie „Gehen, ging, gegangen“ hinaus. Zum ersten Mal legt ein Autor aus dem etablierten Literaturbetrieb den Finger in die Wunde der politischen Korrektheit und scheut sich nicht, seinen Wiedergänger Johannes Lohmer ganz selbstkritisch als opportunistische Literaturlarve darzustellen. Daß Lottmann für dieses Buch seinen alles andere als konservativen Hausverlag Kiepenheuer & Witsch gewinnen konnte, ist mindestens bemerkenswert. Aber eben nur teilweise. Denn bei aller Kritik an der „Wir schaffen das“-Propaganda verbleibt der Autor – übrigens ganz ähnlich wie Robin Alexander in „Die Getriebenen“ – letztlich im common sense seines Milieus. Während Jakob Augstein, der die Massenexzesse von Köln als „Gegrapsche“ verharmloste, im Buch als freundlicher Womanizer auftritt, erscheinen die Angehörigen der außerparlamentarischen Opposition, „die Rechten“, „die Nazis“ oder „Pegida“ als eine dubiose Bande von Untoten, die nur dann und wann ihr Gorgonenhaupt aus dem offerheben. „Eine überschnappende Stimme, ein zustimmendes dunkles Massengeblöke, höhnisches Lachen. Wir waren richtig, hier war die AfD“, heißt es zum Beispiel, als der Protagonist einen AfD-Parteitag besucht. Eine literarisch angemessene und psychologisch überzeugende Darstellung eines „Rechten“, eines konservativen Patrioten, oder eines nationalliberalen Bürgers jenseits der üblichen Karikatur ist offenbar das letzte Tabu, vor dem selbst ein mutiger Autor wie Lottmann zurückschreckt – allerdings so plakativ, dass dem aufmerksamen Leser die Dekuvrierung dieses Kotaus als Kotau nicht entgeht

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