Lucke: Systemausfall. Europa, Deutschland und die AfD

   Rechtzeitig zur Europawahl hat Bernd Lucke sein Buch zur Lage vorgelegt. Das Buch trägt den Titel  „Systemausfall. Europa, Deutschland und die AfD: Warum wir von Krise zu Krise taumeln und wie wir den Problemstau lösen“ und verspricht eine tour d´horizon durch die politischen Untiefen eines aufgewühlten Kontinentes. Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Versprechen wird eingelöst, wenngleich auf ganz unterschiedlichem Niveau. Die Darstellung und Kritik der Eurokrise, der Massenzuwanderung, des Brexits und der merkelschen Politik sind schlichtweg brillant, die Ausführungen über die AfD dagegen zum  Fremdschämen. Selten hat der Rezensent ein Buch gelesen, indem glasklare Analytik und niederträchtige Unterstellungen  derart reibungslos ineinander übergingen. Soweit der erste Eindruck. Nun ins Detail.

Die Systemausfälle, von denen in dem vorliegenden Buch die Rede ist,  lassen  sich als Folge eines  dreifachen Versagens kennzeichnen:  Am Anfang stehen

(1) schlecht gemachte Gesetze respektive schlecht ausgehandelte Verträge; ihnen folgen

(2) eine schlechte Anwendung dieser Gesetze und Vertragsbestimmungen und  schließlich, wenn niemand mehr weiter weiß, einfach

(3) der krasse Rechtsbruch.

Spätestens in Phase drei wird aus dem „Systemausfall“ der „Kontrollverlust“, der das Gesamtsystem in ein gefährliches Ungleichgewicht bringt. Diese verhängnisvolle Sequenz,  die in dem vorliegenden Buch an zahlreichen Beispielen konkret belegt wird, entspringt einem Grundübel der Europapolitik, nämlich der Tendenz, Verantwortlichkeiten und Herausforderungen,  die auf nationalstaatlicher Ebene ganz gut bis leidlich bewältigt werden, auf die EU-Ebene zu übertragen, sie nicht mehr funktionieren.

Das erste Themenfeld, an dem Lucke dieses Modell anwendet, ist die Europapolitik. Der inzwischen für jedermann sichtbare „Kontrollverlust“ war nach  Lucke bereits in den Verträgen zur Europäischen Union angelegt. Lucke verdeutlicht dies etwa an Art. 259 des Maastricht-Vertrages, in dem zwar eine ganze Reihe von Sanktionsmöglichkeiten aufgezählt werden (bis hin zu der Möglichkeit, dass einzelne Staaten Defizitsünder verklagen können), die dann aber am Ende des Artikels einfach wieder zurückgenommen und allein auf die Europäische Kommission beschränkt werden (schlecht gemachte Rechtsnormen). Die Europäische Kommission aber blieb bei  den zahllosen Defizitüberschreitungen notorisch untätig. 65mal  wurde der Maastricht-Vertrag seit seinem Inkrafttreten gebrochen,  nicht ein einziges Mal hat die Kommission Sanktionen verhängt.

Anderes Beispiel:  Bereits Jahre vor dem eigentlichen Ausbruch der Griechenlandkrise war der Europäischen Kommission das wahre Ausmaß des Desasters bekannt, unternommen wurden nichts.   Als dann die Krise ausbrach, wurde Griechenland nicht etwa aus dem Euro entlassen (was nach den vorliegenden Verträgen die einzige sinnvolle Reaktion gewesen wäre), sondern die No-Bail-Out Regel wurde einfach außer Kraft gesetzt (Finaler Rechtsbruch als Phase 3 des Systemausfalls).

Auch die Migrationskrise kann mit dem Luckes´schen Modell beschrieben werden. Alles begann wieder mit schlechten Gesetzen, Verordnungen oder Verträgen, etwa der  EU-Anerkennungsrichtlinie aus dem Jahre 2004, in der zusätzlich zu den dem Rechtkonstrukt des „Flüchtlings“ die Kategorie des  „subsidiär Schutzbedürftigen“ eingeführt wurde, womit sich die Zahl der potentiellen Zuwanderer ins Grenzenlose steigerte. Ein weiterer Meilenstein zum Kontrollverlust  war das verhängnisvolle Urteil des Europäischen Gerichtshofes, der im Jahre 2011 die Rücküberführung von Migranten nach Griechenland mit dem Argument verbot, dass dort menschunwürdige Zustände herrschen würden. Anstatt  nun alle Kräfte einzusetzen, dass sich die Zustände in Griechenland bessern (Rechtsanwendung), wurden hinfort die entgegen den Bestimmungen des Dublin-Abkommens alle Migranten einfach nach  Deutschland, Österreich und Schweden durchgewunken (Rechtsbruch). Ein besonders trübes Bild bot  in diesem Kontext die Europäische Kommission, die sich zwar die Zuständigkeit für die Asylpolitik hatte übertragen lassen, sich aber als  unfähig erwies, diesen Bereich auch zu managen. Erst auf dem Höhepunkt der Massenzuwanderung verfiel die Kommission in hektische Aktivität und versuchte, unter Bruch der nationalen Souveränität einzelnen Ländern  Flüchtlingskontingente zuzuweisen. Mit anderen Worten: die Kommission maßte sich unter Hinweis auf ihre partielle Zuständigkeit einfach das Recht an, in die Kernsouveränität der Mitgliedsstaaten einzugreifen (Rechtsbruch).  Als Ungarn und die Slowakei, später auch  Polen und Tschechien, im September 2015 die  Kommission wegen ihrer willkürlichen Zuweisung von Migranten vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verklagten, ließ sie das Gericht abblitzen. Lucke kommentiert dazu treffend:  „In diesem Urteil des EuGH tritt ein Problem hervor, das immer wieder die europäische Politik kennzeichnet: Der politische Wille setzt sich über die politischen Rahmenbedingungen hinweg und der europäische Gerichtshof duldet und stützt diese Rechtsbeugungen.“

Noch krasser funktionierte das Zusammenspiel von schlecht gemachten und schlecht angewendeten Gesetzen inklusive der vom EuGH sanktionierten finalen Rechtsbeugung beim Bruch der Maastricht-Verträge. Auch hier offenbart sich ein rein opportunistischer Gebrauch von Rechtsnormen. Stimmen die Rechts- der Vertragsnormen mit dem politischen Wollen überein, wird auf ihre Einhaltung gepocht, stimmen sie nicht überein, werden sie  einfach missachtet.

Zu den  lesenswertesten (und aktuellsten) Passagen des Buches gehören Luckes Darlegungen zum Brexit. All denen, die angesichts der kuriosen Abläufe der Brexitverhandlungen in Schnappatmung geraten, sei der kurze Abriss der Brexit-Geschichte aus dem vorliegenden Buch empfohlen. Wieder ist es eine Geschichte schlecht gemachter und schlecht angewendeter Verträge, die zum Kontrollverlust führte.  Denn der wahre Ursprung des Brexits war der  Lissabon-Vertrag, der erstmals die Möglichkeit einführte, in europarechtlichen Entscheidungen Minderheiten mit einer sogenannten doppelten Mehrheit zu überstimmen. Diese doppelte Mehrheit liegt vor, wenn 55 % der Mitgliedsstaaten im Ministerrat zustimmen und wenn diese 55 % zugleich 65 % der EU Bevölkerung repräsentierten.  Durch den Lissabon-Vertrag  verloren die Briten ihre Veto-Position bei wesentlichen Fragen der Grenzsicherung, der Bankenaufsicht und der Zuwanderung. Für Großbritannien war das nicht hinnehmbar, so dass Premierminister Cameron auf Vertragsausnahmen und Änderungen drängte und dabei ein mögliches Referendum bewusst als Druckmittel einsetzte. Verhängnisvollerweise fiel dieser Konflikt mit zwei parallelen Entwicklungen zusammen, einerseits dem Zuzug von 600.000 polnischen Arbeitnehmern zwischen 2004 und 2010 und einer ebenso sprunghaft ansteigenden Masseneinwanderung aus Pakistan im gleichen Zeitraum.  Die erste Zuwanderungswelle polnischer Arbeitnehmer nach Großbritannien hatte übrigens noch die  Labour-Regierung von Tony Blair zu verantworten, die nach der  Osterweiterung von 2004 ausdrücklich auf die  siebenjährige Übergangsfrist für die volle Personenfreizügigkeit  verzichtet hatte. Beide Einwanderungswellen, die Großbritannien zwischen 2004 bis 2010 mit voller Wucht trafen, „verstopften“ die Infrastruktur namentlich in der Gesundheitsversorgung, auf dem Wohnungsmarkt und den Schulen.   Als dann Deutschland zum Staunen der Welt im September 2015 seine Grenzen für Hunderttausende vorwiegend junger Muslime öffnete, drehte sich endgültig die Stimmung und die Mehrheit der Briten stimmte für den Brexit.

Die Prägnanz, mit der Lucke diese verwickelten Abläufe auf ihre fehlerhaften Weichenstellungen zurückführt, hat man in dieser Klarheit noch nicht gelesen. Auch was der Autor im letzten Kapitel zur Hypertrophie der Grenzwerte oder zur Europa-Armee ausführt, ist informativ und überzeugend.  Ebenso wie seine Lösungsvorschläge, die allerdings nicht  über das hinausgehen, was andere Autoren wie Professor Sinn bereits vorgelegt haben. Für Lucke ist der Europäische Binnenmarkt der unbedingt erhaltenswerte Kern der Europäischen Union, um dessentwillen er sogar bereit ist, den ganzen Rest in Maßen anzuerkennen. Dieser „Rest“, den man nach einem viel zitierten Wort von Gerhard Schröder als europapolitisches „Gedöns“ bezeichnen könnte, umfasst Gender Mainstreaming, Klimapolitik, Menschenrechtstheatralik, Asyl-und Sozialpolitik, für die Lucke rein zwischenstaatliche Abkommen vorschlägt.  Auch diese Vorschläge werden dem Leser auf dem Hintergrund von Sachkenntnis und didaktischem Geschick präsentiert. Lucke ist klar und präzise, kühl in der Diktion, und obwohl er sich über die offensichtliche Inkompetenz der europäischen Eliten mehr als einmal wundert, bleibt er sachlich und ausgewogen im Ton.

Das kann man über die Passagen, in denen er sich die AfD vorknöpft, nicht wirklich sagen. Da seine Aussagen zur AfD dem vorliegenden Buch bei den sogenannten „Qualitätsmedien“ die größte Aufmerksamkeit bescheren werden, seien sie im Folgenden kurz dargestellt. Bernd Lucke, der die AfD im Jahre 2013 gegründet hatte,  erinnert sich daran, dass es damals drei Motive gab, aus denen heraus sich Menschen der AfD anschlossen. Die erste Motivlage war die Empörung über den  Bruch der Maastricht Verträge und eine Kritik am Euro, die zweite war eine allgemeine Kritik an den Fehlentwicklungen der  gesamten Europäischen Union und die dritte wurzelte schließlich in einem umfassenden Misstrauen gegen deutsche und europäische Institutionen überhaupt. Während diese drei Richtungen sich in den ersten Jahren noch die Waage hielten, haben inzwischen nach Lucke die Vertreter der dritten Richtung in der Partei die Macht  übernommen. Die Anhänger dieser dritten Richtung bezeichnet Lucke als die  „Verbitterten“. Sie  überreagieren in ihrer Enttäuschung über die Politik und öffnen sich rechtsradikale Stimmungen und obskuren Führergestalten. So habe sich die AfD seit Luckes Abgang 2015  zu einer neuen  DNVP (Deutschnationale Volkspartei) entwickelt, nur dass sie nicht  antisemitisch, sondern antiislamisch und „völkisch“ sei.  Für diese „völkische Neuausrichtung“ der AfD macht Lucke  den Rechtsintellektuellen Götz Kubitschek, den Herausgeber der Sezession und Chef des Antaios Verlages,  verantwortlich. Für Lucke ist Götz Kubitschek der „Valdemort“ der AfD und der Impulsgeber letztlich unbedeutender Gestalten wie Björn Höcke und Konsorten. Der aktuellen Parteiführung macht Lucke den Vorwurf, sich viel zu wenig gegen die Machtübernahme der „Völkischen“ in der AfD zu stemmen, teilweise, weil sie opportunistisch auf Stimmenzuwächse am rechten Rand hoffe, teilweise aber auch, weil sie eingesehen habe, dass ihnen die Mehrheit bereits entglitten sei.

Man muss kein Anhänger von Götz Kubitschek und der von ihm vertretenen ethnopluralistischen Sichtweise sein, um diese Art der Kritik unangemessen zu finden –  vor allem, weil sie sachlich falsch ist. Denn die Betonung des Nationalen, die sich bei Kubitschek und seinen Anhängern durchaus findet, ist um die Idee der „Eigenheit“ und der „Identität“ und nicht der „Überlegenheit“ konzipiert. Man fragt sich, wie ein akribischer Geist wie Lucke im Hinblcik auf Kubitschek und die „neue Rechte“ derart holzschnittartig argumentieren kann. In seiner Polemik gegen die AfD schreckt Lucke nicht einmal vor Anleihen bei der Kampfrhethorik der Linken zurück.  So verwendet er den  Terminus „Sondergesetze“ für die Vorschläge der AfD zur Neubestimmung des Verhältnisses zum politischen Islam, was zutiefst unredlich ist, nicht nur, weil dieses Etikett den Sachverhalt extrem verzerrt, sondern auch, weil er bewusst  Assoziationen zu den Sondergesetzen gegen Juden wecken will.

Diese hier nur in Grundzügen wiedergegebene „Kritik“ ist in ihrer brachialen Unangemessenheit, , man muss es schon so hart sagen, kaum zu begreifen. Sie setzt nicht nur  Götz Kubitscheck sondern auch die führenden Persönlichkeiten der AfD wie Alice Weidel,  Alexander Gauland, Jörg Meuthen, aber auch Abgeordnete wie Curio, Hartwig, Baumann und viele andere mehr als herab, indem sie entweder als Mittäter oder als machtlose Pappnasen in einer mehr und mehr rechtsradikal dominierten Partei  erscheinen. Dieses absolute Zerrbild der Wirklichkeit kann nur erklärt werden durch eine Kategorie, die Lucke seinen Antagonisten unterstellt: eben durch die Verbitterung darüber, in einer offenen politischen Auseinandersetzung die Führung „seiner“ Partei verloren zu haben, die er am Ende fast wie seinen Erbhof lenken wollte. Niemand wird abstreiten, dass die AfD gänzlich von der „Idiotenquote“, mit der alle Parteien zu kämpfen haben, frei ist. Auch dass sie – wie jede neue Partei ein Anlaufpunkt für Querulanten und machthungrige Egomanen ist –  sei zugegeben. Frauke Petry lässt grüßen. Im Kern aber ist sie eine  durch und durch konservativ-bürgerliche Partei, deren Mitglieder aus  patriotischer Verantwortung und in  Achtung der Unterschiedlichkeit anderer Völker genau die Missstände ändern wollen, die Lucke selbst in so eindrucksvoller Weise herausgearbeitet hat.  Dass die Mitglieder der AfD dafür von staatlich alimentierten Schlägerbanden wie der Antifa auf offener Straße zusammengeschlagen und von staatsfinanzierten Medien in übelster Weise stigmatisiert werden, ist Bernd Lucke keiner eingehenden Erörterung wert. Für diesen Kontrollverlust besitzt er kein Sensorium.

So bleibt am Ende der Lektüre Erstaunen und Enttäuschung zugleich. Erstaunen, wie es möglich ist, die brillante Analyse der Gegenwartspolitik mit einer niveaulosen Denunzierung der AfD im gleichen Manuskript zu vereinen  – und Enttäuschung darüber, dass hier ein Politiker unter dem Beifall der offiziösen Presse Parteimitglieder der AfD herabsetzt, von denen sich viele (auch der Verfasser dieser Zeilen) beim letzten Europawahlkampf 2014  dafür engagierten, dass  Bernd Lucke als  Europaabgeordneter der AfD nach Brüssel gehen konnte.  Dass damit nach dem 26. Mai für Bernd Lucke definitiv Schluss ist, erklärt auch einen Teil der Galle, die die AfD-Passagen des Buches durchtränken.

 

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