Warum tut man sich das an? 800 Seiten mäandernde Tagebuchliteratur, ewig kreisend, doppelt und dreifach reflektierend vor dem Hintergrund einer längst vergangen Nachkriegszeit? Zuerst und vor allem wegen der seismografisch sensiblen Sprache, in der das Werk abgefasst ist. Man mag zu seinen Inhalten stehen wie man will, vor der Art der sprachlichen Darbietung kann man nur den Hut ziehen. Jeder, der selbst ein wenig zu schreiben versucht, wird frappiert sein von der Meisterschaft der Autorin, die mit wenigen Sätzen Personen so klar zu skizzieren vermag, dass sie dem Leser auch noch hundert Seiten im Gedächtnis bleiben. In einer literarischen Umwelt, in der so viele schludrig geschriebene Bücher erscheinen, wirkt ein Werk wie das vorliegende mit seiner geschliffenen Sprache wie ein Vademekum für Liteaturverzweifelte.
Inhaltlich bin ich mit dem Buch weniger einverstanden. Ich las es nicht wegen seiner Handlung sondern als Symptom ‚ oder besser: als ein literarisches Artefakt, an dem sich die Herausbildung des derzeit herrschenden Zeitgeistes sehr anschaulich nachvollziehen lässt. Ohne Doris Lessing allein auf diese Kategorie reduzieren zu wollen, ist das vorliegende Buch zweifellos ein Meilenstein der Frauenliteratur, und was könnte deswegen interessanter sein, als sich die Frauen des vorliegenden Buches einmal genauer anzusehen. Die weiblichen Protagonistinnen des vorliegenden Buches sind Blaupausen dessen, was heute als moderne, emanzipierte Weiblichkeit daherkommt – sie sind alleinstehend, alleinerziehend, sexuell freizügig, links ( hier: kommunismusaffin) und, was mir noch nie stark aufgefallen ist, auf eine groteske Weise mit einer enormen Selbstüberschätzung geschlagen.
Das Buch begleitete mich fast zwei Monate, ich las immer weiter, fraß mich wie ein Holzwurm durch das 800 Seitengebälk, was kein Problem war, da in dem vorliegenden Buch Kontinuität und Handlung nicht wichtig sind und man mit der Lektüre aufhören und anfangen kann, wo immer man will. Denn im Kern geht es immer nur im die Befindlichkeiten der Frauen, die als Anna, Molly oder wie immer sie auch heißen mögen, an einer tiefgreifenden Amivalenz leiden;
-dem bereits erwähnten vagen Gefühl der Höherwertigkeit ihrer selbst gegenüber den meist recht tumben Männern, die in der Wirtschaftswelt das Geld verdienen müssen
– verbunden mit einem nur halb eingestandenen Minderwertigkeitsgefühlen, gegenüber diesen Männern, ihren Kindern und den traditionellen Frauenrollen zu versagen.
Man sieht, Doris Lessing ist ehrlich genug, das Unterfutter des Genderismus, das geheime Gefühl des vollkommen Versagens, mit zu thematisieren, es am Ende aber als Schimäre zu verwerfen, die „‚frau“‚ überwinden muss. Von hoher Ehrlichkeit, die sie weit über ihre zwergenhaften Nachfolger heraushebt, verschweigt sie keinesfalls den inneren Kampf und den nagenden Zweifel, den alle Frauen durchzustehen haben, die sich von traditionellen Frauenrollen lösen wollen. Insofern ist das Goldene Notizbuch ein literarisches Zeitdokument ersten Ranges: in einer Epoche des triumphierenden Genderismus wird der Leser zum Zeugen, aus welch zarten und komplexen Anfängen alles begann. Dafür gebe ich ohne Zögern fünf Punkte. Mit dem Kult der Gleichgeschlechtlichkeit, der Kinderlosigkeit und der kuriosen Leugnung biologisch begründeter Geschlechterrollen hat dieses Buch allerdings noch nichts zu tun.
Das gleichzeitige befremdliche Engagement für den menschenverachtenden Kommunismus, das in dem Buch breiten Raum einnimmt, sollte man nicht so ernst nehmen. Mit ihm verhält es sich wie mit der Hinneigung vieler Zeitgenossen zum herrschenden Kulturmarxismus. Es sind keine wirklichen Passionen, für die man mit seiner Existenz einstehen würde, sondern Exaltationen der frei flottierenden Emotionalität auf die Welt.