Wie viele Leser meiner Generation bin ich mit Martin Walser groß geworden. Mit der Anselm Kristlein Trilogie, später dem „Fliehenden Pferd“ und „Finks Krieg“. An Martin Walser habe ich gelernt, wie luzide Sprache die Innenwelt von Menschen erleuchten kann, auch wenn mich seine späteren Werke nicht mehr so überzeugten. Walsers Grundeinstellung zur Welt „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“ und „Bleiben wollen und Gehen müssen“ verdeutlicht ein Grundmoment der menschlichen Befindlichkeit, und dass er in der Lage war, dieses Moment in Literatur zu übersetzen, macht seine Größe aus.
Jorg Magenau hat nun eine voluminöse Biografie von Martin Walser vorgelegt, so umfangreich und detailliert, dass man sich unwillkürlich fragt: will man es denn gar so genau wissen? Ja, lautet die Antwort, weil die Biografie von Jörg Magenau nicht nur Walsers Werdegang sondern auch eine Stückweit die intellektuelle Geschichte der Bundesrepublik beschreibt. In dieser Doppelperspektive ist das vorliegende Buch mit Gewinn zu lesen.
Schon als junger Autor findet Walser zur Gruppe 47 und weiß sich den Organisatoren der jungen deutschen Literatur durch seine Verbindungen zum Rundfunk dienstbar zu machen. Auch wenn er anders als Böll oder Grass niemals den Preis der Gruppe 47 gewann, wird er schon 1957 mit seinem Roman „Ehen in Philippsburg“ landesweit berühmt. Kurz darauf hoben ihn seine Anselm Kristlein Romane in die erste Reihe der deutschen Autoren. Politisch stand er in der frühen Bundesrepublik wie der gesamte literarische Mainstream stramm links. Walser engagierte sich für Willi Brandt, nahm am Suhrkamper Lektorenaufstand teil, verurteilte den Vietnamkrieg und sympathisierte eine Zeitlang sogar mit der DKP, ehe ihm eine Reise nach Moskau die Augen öffnete. Trotzdem wurde er in den Siebziger Jahren er als ebenso stark links stehend wahrgenommen und wie er später in den Nuller Jahren als „Rechtsausleger“ verschrien war.
Irritierend war, wie strickt er in den Siebziger Distanz zu Solschenizyns „Archipel Gulag“ hielt, der die Mär vom fortschrittlichen Sozialismus ein für alle Mal entsorgte. Hier machten Böll, Grass und Johnson eine entschieden bessere Figur. Erst nach dem Sturz Willy Brands durch die Guillaume Affäre und die Machenschaften der DDR Führung wendet sich Walser mehr und mehr von der DKP ab und nähert sich der SPD wieder an.
In dieser mittleren Epoche seines Schaffens verändert sich nach Magenaus Meinung Walsers Schreiben. War die Anselm Kristlein Trilogie „ein wahres Ich-Oratorium“ wird Walser nun zum auktorialen Erzähler, der aber trotzdem sehr nah bei den Figuren bleibt. Magenau schreibt, die Sätze würden kürzer, die Hauptpersonen zurückhaltender, doch die Themen blieben die gleichen: das gesellschaftliche Leben und die Agonie in der Anpassung zwischen dem Ich und der Welt. Man liest es und kann sich nicht erinnern, selbst dergleichen damals an Walsers Büchern festgestellt zu haben.
Das erste Werk, dass diese Periode eröffnete, „Jenseits der Liebe“ erfährt eine jedoch vernichtende Kritik von Marcel Reich Ranicki: «Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen.» schreibt der gnadenlose Kritikerfürst. Kein Wunder, dass seitdem das Tischtuch zwischen Walser und Reich-Ranicki zerschnitten war. Eine erfolgreiche Lesereise und Platz 2 der Verkaufsliste straften den Großkritiker allerdings Lügen. Es folgte der Riesenerfolg von „Ein fliehendes Pferd“ im Jahre 1978, das Walsers prekäre finanzielle Situation saniert. Immerhin war er das Oberhaupt einer sechsköpfigen Familie, trank gerne guten Wein, logierte in Premium Hotels und rauchte dicke Zigarren. Gerne nahm er die Einladung des STERN an, nach Trinidad und Tobago zu reisen, auch wenn das Magazin seinen sozialkritischen Reisebericht ablehnte. Zeitweise unterrichtet er in den USAS, wo er mit Karasek Tennis spielt und fährt in einem alten Autor von New York bis Texas, wo ihn die amerikanische Campus Kultur begeistert.
In dieser Zeit notiert der Magenau eine zunehmende Hinwendung Walsers zur deutschen Frage. Im Unterschied zu vielen seinen geschichtlich ungebildeten linken Opponenten versteht Walser Deutschland als eine zusammengehörige Kulturnation, wenngleich er sich (noch) die (wünschenswerte) Einheit nur unter sozialistischen Vorzeichen vorstellen mag. Im Grunde sollte er später nur das Vorzeichen, den Sozialismus, ändern. Der Patriotismus bleibt, womit er sich dem Mainstream entfremdete. Diese Entfremdung wird von Magenau anhand dreier „Skandale“ recht aufschlussreich entfaltet.
(1) Bei seiner Laudatio auf Viktor Klemperer bezieht sich Walser 1995 so stark auf Klemperers deutschfreundlichen Patriotismus, dass er sich die Gunst von Jürgen Habermas verscherzt. Jürgen Habermas, heute eine geistige Riesenkaktee ohne Inhalt, stand damals voll im Saft als Herrscher über den sich unaufhaltsam konstituierenden rotgrünen Zeitgeist. Dementsprechend kommt es zu ersten kritischen Absatzbewegungen der Linkspresse, angeführt von der Süddeutschen Zeitung, die Walser eine Verharmlosung des Holocaust vorwirft.
(2) Die Paulskirchenrede über die Instrumentalisierung des Holocaust und die „Auschwitzkeule“, die in beißender Schärfe den bundesrepublikanischen Schuldkult kritisiert, führt zu einem Aufschrei des Establishments, und schließlich mündet
(3) die Veröffentlichung von „Tod eines Kritikers“ in eine hasserfüllte Stigmatisierungskampagne gegen Walser. Ganze Hetzmeuten springen plötzlich aus der Kiste, die an einem der Grundpfeiler der linken Kulturhegemonie – den Schuldkult – nicht rütteln lassen wollen.
Betrachtet man die Ängstlichkeit, mit im Jahre 2021 bekannte Fernsehschauspieler wegen einer Serie läppischer Videos unter medialem Druck einknickten, imponiert der Mut und die Tapferkeit, mit der Walser diesen Kampf aufnahm. Als umgezogene Lümmel in seinen Lesungen „Antisemit“ schreien, fordert Walser die Schreier auf, nach vorne zu kommen und sich eine Ohrfeige abzuholen. Als er einen der jugendlichen Rempler anfasst, kreischt dieser hysterisch „Fassen sie mich nicht an. Mein Vater ist Staatsanwalt“. Trotzdem ist es bedrückend nachzuvollziehen, wie sich schon lange vor der „Durchgrünung“ des Mainstreams das bittere Gebräu aus geistiger Unterbelichtung, juveniler Unbedarftheit und Mobbing Instinkten zum ersten Mal in aller Öffentlich breitmachte. Dankenswerterweise versäumt es Magenau nicht, auf die verhängnisvolle Rolle hinzuweisen, die die FAZ und besonders ihr Herausgeber Frank Schirrmacher spielte, als der „Tod eines Kritikers“ als „antisemitisch“ denunziert wurde. Schirrmacher bediente sich einer Methode, die heute zum alltäglichen Arsenal der Stigmatisierung gehört: man unterstellt dem Antagonisten Positionen, die er gar nicht vertritt, nagelt ihn darauf fest und verweigert sodann aus moralischen Gründen das Gespräch. Wie Magenau Beispiel eines Interviews mit dem Nobelpreisträger Imre Kertesz nachweist, scheute die FAZ in der Auseinandersetzung mit Walser selbst vor bewussten Fälschungen nicht zurück. „Das waren noch Zeiten, als die Heuchler rechts waren“ kommentierte Walser. Diese Kontroversen wirken von heute aus wie Generalproben linkshegemonistischen Exzesse, wie wir sie heute als „Cancel Culture“ und „Deplattforming“ erleben.
Die mangelnde Unterstützung, die der Suhrkamp Verlag Walser in dieser Auseinandersetzung zukommen lässt, verlässt ihn, kurz darauf den Verlag zu wechseln. Ein Schelm, wer hier an den späteren Dolchstoß des Suhrkamp Verlages gegenüber Uwe Tellkamp denkt.
Wie erwartet geht der Literaturnobelpreis 2004 an ihm vorbei und wird – um die Abseitigkeit auf die Spitze zu treiben – an die schrille Elfriede Jelinek verliehen. Trotzdem entfaltet der alte Walser im noch jungen 21. Jhdt., eine erstaunliche Altersproduktivität: Auf „Der Augenblick der Liebe“ folgen „Angstblüte“ und „Ein liebender Mann“. Fast jedes Jahr wirft Walser ein Buch auf den Markt, nicht immer ein Kracher, aber immer eine sichere verkaufstechnische Bank. Das Ausmaß seiner Lesereisen nimmt nicht ab. Die Zahl der Interviews, die er auf Reisen und zu Hause gibt, nimmt eher noch zu. Er liebt die öffentlichen Auftritte, den Kontakt zum Publikum, das stundenlange, geduldige Signieren. Er liebt die Frauen, den Wein und das Leben – auch wenn diese Dimension in der autorisierten Walser Biografie fast vollkommen unter den Tisch fallt. (Wer sich dafür interessiert, den empfehle ich den Schüsselroman „Bleibtreu“ von Martina Zöllner). 2011, das Jahr, in dem die Biografie endet, gilt Martin Walser als einer der führenden Intellektuellen Deutschlands, gleich hinter Papst Benedikt XVI und vor Günter Grass und Harald Schmidt. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen nähert sich Walser dem 95. Lebensjahr und wie man hört, schreibt er noch immer.
Soweit derer Inhalt und die Akzentsetzung des vorliegenden voluminösen Buches. Mit den ganz am Anfang formulierten Einschränkungen ist Magenau eine anspruchsvolle Literaturbiografie gelungen, bei der der Autor genau die Mitte hält zwischen der Sympathie, ohne die ein Biograf seinem Gegenstand nicht gerecht werden kann, und der kritischen Distanz, die ihm eine Einordnung in die zeitgeschichtlichen Abläufe gestattet. Möglicherweise ist das Urteil über die späten Walser Werke ein wenig weichgespült, aber das ist natürlich Geschmackssache, und wer bin ich, darüber zu urteilen? Basil Schlupp lässt grüßen. Dafür werden die Männerfreundschaften und -feindschaften in der vorliegenden Biografie ausführlich beschrieben. Etwa die zwischen Walser und Max Frisch, der ihm vorhielt: “Du bist kein guter Zuhörer, denn dir fällt beim Zuhören so viel ein, dass du es gleich sagen musst.“. Spannungsreich war die Freundschaft zu Günter Grass, dem härteren, gradlinigeren Literaten, hasserfüllt war die Beziehung zu Marcel Reich-Ranicki, der sich Walser gegenüber jede Menge Perfidien gestattete. Fast tragisch gestaltete sich der Bruch mit Uwe Johnson, die in einer bezeichnenden Szene kulminiert, die Magenau wie folgt beschreibt: „Sie tranken schnell ein paar Gläser Wein. Johnson sagte etwas über Walsers neue Armbanduhr, die ihm wohl ein bisschen protzig erschien. Walser nahm sie ab, reichte sie über den Tisch, und Johnson warf sie mit großer Geste aus dem Fenster. Walser stand auf, verließ das Lokal und reiste ab.“ Am intensivsten und schmerzlichsten war die Freundschaft zum Suhrkamp Verleger Siegfried Unseld, die erst gegen Ende von Unselds Lebend durch den Einfluss von Ulla Berkowitz in eine Krise geriet.