Manche, die den Film „Sieben Jahre in Tibet“ gesehen haben, werden sich an Peter Aufschnaiter erinnern, den hochgewachsen und schlaksigen Bergsteiger, der im Kontrast zu Heinrich Harrer die freundliche Variante der deutschen Tüchtigkeit auf dem Dach der Welt repräsentierte und schließlich mit einer tibetischen Ehefrau im Land verblieb. Dass Jean-Jacques Annaud, der Regisseur von „Sieben Jahre in Tibet“ Peter Aufschnaiter eine tibetische Ehefrau andichtete, war freie Erfindung und zeigte, wie biografisch unbefangen er mit einer vermeintlich zweitrangigen Figur umsprang,
Nichts könnte falscher sein. Im Kontext des großen Tibet-Abenteuers von Harrer und Aufschnaiter war Aufschnaiter der Ältere und Landeskundigere, ohne ihn hätte Heinrich Harrer wahrscheinlich Lhasa überhaupt erreicht. Auch als Landvermesser, Kanalbauer und Ingenieur leistete er ab 1946 bei den Entwicklungsarbeiten in Lhasa erheblich Fundierteres als Heinrich Harrer, der sich allerdings mit dem jungen Dalai Lama anfreundete, was Harrers späteren Veröffentlichungen zugutekam. In Wahrheit war Peter Aufschnaiter der Mann, der „nach Lhasa vorging“, was Harrers Leistung nicht schmälern soll.
Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte des tiroler Bergsteigergs Peter Aufschnaiter aus dieser Perspektive und beruht in großen Teilen auf der von Aufschnaiter noch kurz vor seinem Tod in Angriff genommenen Autobiografie und umfasst weit mehr als „nur“ die „sieben Jahre in Tibet“ (Bei Aufschnaiter waren es eigentlich acht Jahre gewesen). Im Mittelpunkt des Buches steht die abenteuerliche Flucht Aufschnaiters und Harrers aus dem britischen Gefangenenlager von Dehra Dun über den Himalaja nach Westtibet. Es geht vorbei am Manasarowarsee und dem heiligen Berg Kalasch (der übrigens werder bei Harrer noch bei Aufschnaiter erwähnt wird) bis nach Lhasa. Dort werden sie zeuge innenpolitischer Machtkämpfe, in denen tibetische Potentaten unterhalb der Dalai Lama Ebene um Macht und Einfluss ringen. Das ist aufschlussreich, weil es der Tibet-Stereotyp der absoluten Friedfertigkeit ein wenig relativiert. Manches, was es in dem vorliegenden Buch zu sehen gibt, mach aber auch traurig, wie etwa eine Fotografie des alten Lhasa, auf der der Potala wie ein einsamer Reise eine kümmerliche Siedlung überragt, wo sich heute eine nach Hunderttausenden zählende chinesische Großstadt ausbreitet. Der14. Dalai Lama, der als kleiner Junge damals vom Potala aus mit einem Fernglas das Tal beobachtete, sitzt heute im indischen Dharamshala im Exil.
In den fünf Jahren des Lhasa-Aufenthaltes trennen sich die Schicksale von Harrer und Aufschnaiter. Während Heinrich Harrer zum Freund und Mentor des kleinen Tendzin Gyatso, des späteren 14. Dalai Lamas, wird, geht Aufschnaiter ganz in seinen Infrastrukturplänen auf.
Bekanntlich endete das tibetische Abenteuer der beiden Deutschen mit dem Einfall der Chinesen, die Tibet 1950 überfallen und besetzen. Aufschnaiter und Harrer fliehen nach Süden und trennen sich in Gyantse, weil Aufschnaiter noch Schigatse und Sakya bereist, ehe er 1952 den Himalaya überquert und die nepalesische Hauptstadt Kathmandu erreicht. Dort tritt in die Dienste der englischen Kolonialverwaltung und kann auf diese Weise ganz Nepal bereisen, wobei er unter anderem als erster das Königreich Mustang ausführlich beschreibt. Später tritt Aufschnaiter in die Dienste der FAO und unternimmt weitere Forschungsreisen in den asiatischen Raum.
Eine vergleichbare weltweite Publizität, wie sie Heinrich Harrers Tibetbuch zuteilwurde, war ihm allerdings nicht vergönnt. Dafür fehlte Aufschnaiter die Lust und der Wille zur Selbstpräsentation, möglicherweise auch die literarische Begabung denn manche der in dem vorliegenden Buch breit abgedruckten Tagebucheintragungen kommen so hölzern daher wie eine tibetische Reliquienkiste. Das hat zeitlebens an dem Aufschnaiter genagt, so dass die Kontakte von Harrer und Aufschnaiter immer distanziert blieben und in einer unschönen Szene endeten. Kurz bevor Aufschnaiter im Jahre 1973 in einem Krankenhaus in Kitzbühl an Blasenkrebs starb, erhielt er Besuch von Heinrich Harrer, der dem Todkranken einen Blumenstrauß überreichte. „Doch Aufschnaiter wollte nichts wissen von seinem alten Tibetkameraden“, schreibt Mailänder. Er warf „den von Harrer überreichten Blumenstrauß von sich und drehte sich gegen die Wand. Vielleicht saß der Stachel noch immer tief, dass Harrer ihm beim Veröffentlichen der gemeinsamen Tibet-Erlebnisse den Rang abgelaufen hatte.“
Alles in allem habe ich das Buch mit großem Interesse gelesen. Hier und da hätte es ein wenig flüssiger geschrieben sein können, aber die gelegentliche Sperrigkeit wird durch den ausführlichen Einbezug der aufschnaiterischen Originaltexte ausgeglichen. Geeignet ist das Buch für Tibeteinsteiger mit Interesse und Durchhaltevermögen, aber auch der Tibetkenner kommt in dem detailreichen Werk auf seine Kosten. Die Fotografien aus Aufschnaiters Nachlass vermitteln sehr eindringlich die Stimmung der Ursprünglichkeit, die das alte Tibet noch bis in die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts auszeichnete und erinnern daran, dass dieses alte Tibet nach 70 Jahren chinesischer Okkupation drauf und dran ist, für immer im Orkus der Geschichte zu verschwinden.