In dem Film „Amadeo“ von Milos Forman wird Kaiser Josef II mit einer üppigen Mozart-Musik konfrontiert, die ihn zugleich begeistert und irritiert. In seiner Hilflosigkeit äußert er dem Werk gegenüber eine Kritik, die zum geflügelten Wort wurde: „Zu viele Noten.“Kann es auch in einem Roman „zu viele Worte“ geben? Ja und nein, würde Radio Eriwan antworten. Wenn es sich um Marcel Proust handelt, darf ein Buch wie „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auch schon einmal dreitausend Seiten lang sein, und wenn der Autor Arno Schmitt heißt sind auch 1500 Seiten für „Zettels Traum“ nicht zu viel.
Wie aber verhält es sich mit der 2300 Seiten umfassenden monumentalen Cromwell-Trilogie der britischen Schriftstellerin Hilary Mantel, deren dritter und letzter Band „Spiegel und Licht“ gerade erschienen ist? Dieses abschließende Werk, lange erhofft und fast schon nicht mehr erwartet, bringt das vielleicht erstaunlichste Romanprojekt der letzten Jahre zu einem Abschluss, auch wenn die Autorin dafür wieder 1100 Seiten benötigt und das Buch in seiner gebundenen Ausgabe drei Pfund auf die Waage bringt.
Das ist eine Menge Holz, könnte man umgangssprachlich sagen, die auch gestandene Rezensenten ins Schwitzen bringt. „Zu viel Stoff“ stöhnte Judith Luig in der ZEIT (wir erinnern uns: Kaiser Joseph). „Kein leichtes Buch“, schreibt Denis Scheck und fügt warnend hinzu: „Man muss sich für dieses Buch Zeit nehmen.“ Würde man Bücher in Analogie zu Bergen begreifen, könnte man Mantels Cromwell Trilogie tatschlich als einen echten Mount Everest und den letzten Band als den „Hillary Step“ bezeichnen, der dem Leser Einiges abverlangt. Aber lohnt sich der Aufstieg?
Uneingeschränktes ja, man ein hard core Leser ist und sein Herz an die Epoche der Tudorzeit verloren hat. Jedenfalls kommen Freunde des Lordsiegelbewahrers auch im dritten Teil der Cromwell- Trilogie voll auf ihre Kosten. Wieder entwickelt die Autorin die Handlung in langen Gesprächen und Selbstreflexionen, die auch einen Rückblick auf die beiden ersten Bände gestatten. Wieder arbeitet Mantel mit einer eigenwilligen Erzählform, indem sie ihre Geschichte praktisch personal aus der Cromwell´schen Ich-Perspektive entfaltet, aber von Cromwell immer nur in der dritten Personal spricht. „Er“ kann also in dem vorliegenden Buch zweierlei bedeuten: die Beschreibung einer beliebigen Person – und die Ausleuchtung der Cromwell´schen Innensicht, so dass der Leser gehörig aufpassen muss, um nicht ins Schleudern zu geraten.
Inhaltlich erlebt der Leser Thomas Cromwell in „Spiegel und Licht“ auf dem Höhepunkt seiner Macht. Nachdem er im ersten Band über Thomas More und im zweiten Band über Anne Boylen triumphiert hat, entzieht er nun Schritt für Schritt als Lordsiegelbewahrer dem Adel und der Kirche ihre spätfeudalen Privilegien, um sie der Verfügungsgewalt des Königs zu unterstellen. „Sie denken, sie schreiben ihre eigenen Gesetze“, räsoniert Cromwell über den Hochadel, „aber die Zeiten sind vorbei. Es gibt keine privaten Königreiche mehr. Es gibt
nur ein Gesetz, und das ist das Gesetz des Königs.“ Als Kenner und Schüler seines Zeitgenossen Machiavelli vermeidet Cromwell unnötige Grausamkeiten, schreckt aber auch vor dem Einsatz von Gewalt nicht zurück. Dem exilierten englischen Kardinal Reginald Pole schickt er die Mörder durch ganz Europa hinterher, und diejenigen, die der König fallen sehen will, liefert er bedenkenlos dem Henker aus. In dieser irrlichternden Rolle portraitiert die Autorin ihren Protagonisten als einen der Schöpfer der englischen Staatlichkeit, auch wenn sich die konstitutionelle Basis dieser Zentralisierung, König Heinrich VIII, als schwankend erweist.
Als Jane Seymour, die dritte Gattin des Königs, bei der lang erwarten Geburt eines männlichen Thronfolgers stirbt, wendet sich das Glück. Der Sturz kommt dann ganz plötzlich. Der Wind reißt ihm den Hut vom Kopf, und niemand der Umstehenden nimmt die Kopfbedeckung ab. Da weiß er, dass er verhaftet wird. Nach neun Tagen Verhören mit lächerlichen Anklagen entzieht ihm das Parlament die bürgerlichen Rechte. Cromwells Briefe an den König bleiben unbeantwortet. Einen Prozess erhält „er“ nicht, genauso wenig, wie er seinen Opfern einen Prozess zugebilligt hatte. Am 28. Juli 15.40 Uhr fällt „er“ unter dem Beil des Henkers.
Damit endet die Cromwell-Trilogie nach insgesamt 2300 Seiten, und es stellt sich die Frage, wie es der Autorin gelingen konnte, über einen derartigen Lektüre-Ozean hinweg Kurs zu halten. Denn um der Wahrheit die Ehre zu geben: ein uneingeschränktes Vergnügen ist es nicht, die kaum überschaubare Vielfalt der Personen auseinander zu halten, die in den Hunderten aufeinanderfolgenden Gesprächen und Reflexionen ihren Auftritt haben – nicht nur, weil die Hälfte von Ihnen „Thomas“, „Henry“ oder „Mary“ heißt, sondern auch, weil viele Figuren gleich unter mehreren Namen auftreten. Seitenweise werden Speisen, Wandteppiche, Kleider oder Gartenanlagen in einer Abbildungslust beschrieben, die selbst für Fontaneleser eine Herausforderung darstellt. Selten hat eine Autorin ein größeres Zutrauen in die Konzentrationsfähigkeit und Durchhaltekraft ihrer Leser gesetzt als Hilary Mantel.
Und das, ohne dass dem Leser eine übergreifende formale Konzeption helfen würde, mit der Länge des Romans zurechtzukommen. So lebt etwa der monumentale „Wallenstein“ Roman von Alfred Döblin von der psychologischen Entwicklung des Verhältnisses von Wallenstein und Ferdinand und „trägt“ damit mühelos eine Handlung von über tausend Seiten. Auch die stattliche Länge von Thomas Manns „Buddenbrooks“ wird dadurch nachvollziehbar, dass das Verfallsmotiv von Generation zu Generation neu durchdekliniert wird. Von beidem kann in der vorliegenden Cromwell-Trilogie nicht die Rede sein. Weder entwickelt sich Thomas Cromwell als Romanfigur, noch existieren wirkliche Antagonisten, denn sogar Heinrich VIII, Anne Boleyn oder Bischof Gardiner erscheinen nur als Funktionen der Cromwell´ suchen Wahrnehmung. Auch ein übergreifendes Gestaltungsprinzip, das sich in jedem Buch neu entfalten würde, gibt es nicht. Cromwell ist vielmehr das immer gleich flackernde „Licht“, in dem sich die Epoche „spiegelt“ – das aber in einer Pracht und Anschaulichkeit, die ihresgleichen sucht.
Wirklich lesenswert ist das vorliegende Romanwerk aus dem fundamentalsten Grund, aus dem Bücher überhaupt gelesen werden: aufgrund der Sprachmächtigkeit und erzählerischen Kraft der Autorin. Auf jeder Seite triumphiert die lebenspralle Einzelheit, die treffende Metapher, die überzeugende Charakterisierung oder eine poetisch ausgemalte Stimmung. Diese Sprachmächtigkeit erzeugt zusammen mit dem durchgängig verwendeten Präsenz als Zeitform eine geradezu herbeigezoomte Anschaulichkeit, die verblüfft. „Er ist unfähig, seine Abneigung zu unterdrücken“, denkt Cromwell in einem Disput mit dem Herzog von Norfolk, „genauso wenig, wie ein Misthaufen etwas gegen seinen Gestank tun kann.“ Prinzessin Mary „ist wie in hungriges Kind, denkt er. Füttere sie mit etwas Aufmerksamkeit, und sie überfrisst sich daran.“ Wenn man will, kann man in dieser Beschreibungsallmacht des unentwegt räsonierenden Lordsiegelbewahrers etwas Artifizielles erkennen, aber literarisch ergiebig und unterhaltsam ist sie auf jeden Fall. Aber Cromwells Sprachmacht erschöpft sich nicht nur im Beschreibenden, er reflektiert auch über Religion, Kunst, sogar über die Wiederaufforstung der Wälder und am Ende sogar über seine letzten Sekunden am 28. Juli 1540. „Er senkt den Körper um zu sterben“, heißt es auf der letzten Seite von „Spiegel und Licht“. „Er denkt, andere können es, also kann ich es auch.“
Damit schließt der Roman, und jeder Leser mag sich am Ende um sein eigenes Fazit bemühen. Bei vielen mögen es Gedanken, Wortspiele und Einsichten sein, die wie Krümel vom Tisch der Autorin fielen. Andere erleben eine Epoche als so „auserzählt“, wie man es noch nie gelesen hat. Allen aber bleibt nur das Staunen über diesen beispiellosen literarischen Fesselungsakt, der von England aus über die Welt kam. Dass so viele Millionen Leser einer Autorin folgen, die so viel fordert, aber noch mehr zu geben hat, ist eine der erfreulichsten Tatsachen des neueren Literaturbetriebes.