Mappes-Niediek: Europas geteilter Himmel.

Zu den Sternstunden der neuen Geschichte gehörte Osterweiterung der EU. Nach den  Verwüstungen, die zwei Weltkriege namentlich in Osteuropa angerichtet haben, war es eine wunderbare Erfahrung, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts  wieder von Lissabon bis Tallinn ohne Grenzen und Behinderungen reisen zu können. So hat es der Rezensent  empfunden, der gleich nach der EU Osterweiterung im Jahre 2004 durch Polen und das Baltikum gereist ist.

Inzwischen ist dieser europäische honey moon einer starken Ernüchterung gewichen – und das aus zwei Gründen. Erstens haben die europäischen Eliten mit ihrer himmelsschreienden Inkompetenz  das Projekt EU insgesamt in eine Sackgasse gesteuert. Zweitens wird immer deutlicher, dass die osteuropäischen Nationen innerhalb und außerhalb der EU ganz anders geartet sind als es sich die Brüsseler Eurokraten und die Strippenzieher in Paris und Berlin vorstellten. „Europas Himmel ist geteilt“, schreibt Norbert Mappes-Niediek in dem vorliegenden Buch und versucht, dieses Anderssein des Ostens dem westlichen Leser zu erklären.

Ein löbliches, wenngleich ein schwierige Unterfangen. Denn was ist Osteuropa? Gibt es nicht gleich drei davon? Die osteuropäischen EU Mitglieder, zu denen nolens volens auch das Baltikum, Slowenien und Kroatien gezählt werden (wenn man so will: ein „prosperierendes Osteuropa“). Sodann die osteuropäischen Nicht-EU-Staaten wie die Ukraine, Weißrussland und die Balkanländer (manche nennen es den „wilden Osten“) und schließlich Russland, das wieder eine ganz andere Hausnummer darstellt.  Was „eint“ diese drei Regionen und grenzt sie vom Westen ab?

Die Religion kann es nicht sein, denn der so umfassend definierte Osten enthält stockkatholische und stockorthodoxe Völker. Die slawische Sprache entfällt ebenfalls, denn die Esten, Letten und die Ungarn sind keine Slawen, und die Rumänen halten sich für Romanen. Ist es die „Hajnal Linie“, nach der östlich einer Linie von Tallinn bis Triest ein anderes Heirats- und Reproduktionsverhalten vorherrscht als westlich? Oder sind es die Erfahrungen der Nationalstaatsbildung, die sich im Osten als Lösungsprozesse aus großen Imperien (Zarenreich, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich) und im  Westen in Auseinandersetzung mit den Nachbarvölkern vollzogen? Große Teile des Buches diskutieren solche Grenzziehungen, deren Details hochinteressant zu lesen sind, ohne dass sie zu einer bündigen Lösung beitragen.  Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass es „ein“ Osteuropa ebenso wenig gibt wie „ein“ Westeuropa. Stattdessen spricht der Autor von „konzentrischen Kreisen“, die sich überlappen und miteinander konkurrieren.

Das hört sich ein wenig lahm an und verdeckt die Hauptstärke des vorliegenden Buches, nämlich seinen überbordenden Faktenreichtum im Hinblick auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche.  Mit seiner Vielzahl an Verweisen und seiner immer wieder ins Spiel gebrachten geschichtlichen Tiefendimension kann das Buch wie eine „Einführung in Osteuropa“ gelesen werden. Sein Ertrag sind keine schlagbaumartigen Grenzziehungen, sondern unzählige neue Einsichten auf einer „mittleren Ebene“ und eine gewisse Scheu vor dem Ziehen großer, mitunter recht banaler Linien.

Ein Beispiel soll die Argumentationsweise von Mappes-Niediek erläutern.  Mappes-Niediek verweist bei der Diskussion um die Nationalitätenfrage etwa auf das Abstimmungsverhalten der Osteuropäer beim „European Song Contest“, bei dem es bekanntlich verboten ist, für den eigenen Kandidaten zu stimmen. Während man im Westen starke nachbarschaftliche Aversionen erlebt, bei denen der Franzose ungern für den Briten und der Holländer nur selten für den Deutschen  stimmt, verhält es sich im Osten ganz anders. Hier stimmen die Zuschauer bevorzugt für die Kandidaten aus den Nachbarländern. Toll, denkt der Unbedarfte, die Osteuropäer schätzen ihre Nachbarn mehr als die Westeuropäer. Das Gegenteil ist richtig. Denn die hohen osteuropäischen Voten  für die Nachbarländer ergeben sich aufgrund des Stimmverhaltens der nationalen Minderheiten. So stimmen die Serben im Kosovo massiv für Serbien, die Russen in Lettland für Russland, die Moldawier fast geschlossen für Rumänien und vor allem die Ungarn in Rumänien unisono für Ungarn. Mappes-Niediek folgert daraus, dass im Osten Nationalität etwas ganz anders (Wichtigeres) als der Staat ist. Mit Familie und Religion verhält es sich nicht anders.  Zwar sind Bayern und Polen gleichermaßen katholisch, aber der polnische Marianismus ist doch etwas ganz anderes al der barocke lebensfrohe Katholizismus in Bayern. „It´s  not the economy, stupid“, könnte man, Bill Clinton paraphrasierend sagen, sondern die Zivilisation, die den Osten vom Westen unterscheidet und zwar je ausgeprägter, je weiter man sich von den Städten entfernt. Dass zu dieser Lebenswelt im Osten auch ein erschreckendes Ausmaß von gleichsam „selbstverständlicher“ Korruption gehört, wird nicht verschwiegen. Ebenso wenig wie die notorische Schwulenfeindlichkeit, die noch immer im Osten grassiert, wobei allerdings dieses Thema, so der Autor, bedauerlicherweise von Politikern instrumentalisiert wird. “Die hässlichen Emotionen sind keine dauerhaften Charakteristika osteuropäischer Gesellschaften“, schreibt Mappes-Niediek, „eher schmutzige Schaumkronen auf einer langen, heftigen Welle des Nationalismus“. Die Bevölkerung urteile stattdessen oft viel ausgewogener. So lehnen zwar die meisten Polen die Homo-Ehe ab, sprechen sich aber dafür aus, den Beziehungsstatus von homosexuellen Partnerschaften als eingetragene  Lebensgemeinschaften zu sichern.

Einer abschließenden Bewertung enthält sich der Autor. Er plädiert stattdessen für ein besseres gegenseitiges Verstehen, wozu er mit seinem Buch einen ungemein informativen Betrag leistet.  Wer will es ihm verdenken, dass er sich an die ganz heißen Eisen nicht herantraut. Die islamistischen  Morde und sexuellen Übergriffe von Zuwandern, die den Westen seit 2015 erschüttern, bleiben ebenso unerwähnt wie das stark negative Echo, das sie im Osten hervorrufen.

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