Die wirklich guten Bücher kann man in jedem Alter lesen, heißt es. Auch wenn sich das wie eine Werbefloskel für „Harry Potter“ anhört – für „Tom Sawyers Abenteuer“ trifft dieses Diktum tatsächlich zu. Ich habe „Tom Sawyers Abenteuer“ noch einmal gelesen, weil ich auf einer Amerikareise in Hannibal/Missourie Station machte, in jener Stadt am Mississippi, in der der junge Samuel Clemens alias Mark Twain zwischen 1844 bis 1853 im Alter von 9 bis 18 Jahren seine Knaben- und Jugendzeit verbrachte. Hier lernte er Tom Blankenship kennen den verwahrlosten aber liebenswerten Sohn eines alten Trinkers (Huckleberry Finn läßt grüßen), der später zu einem angesehenen Richter in Montana wurde – ebenso wie Laura Hawkins, die reale Blaupause der zauberhaften Becky Thatcher, mit der sich Tom Sawyer indem vorliegenden Buch in der Unschuld seiner jungen Jahre verlobt. Ein Bronzedenkmal im „Twain Town“ von Hannibal erinnerte an Tom und Huck, eine weitere Skulptur zeigte den jungen Samuel Clemens/Mark Twain als Lotse auf dem Mississippi und auf der anderen Seite des großen Stroms war ein Insel zu erkennen, die gut und gerne der Ort gewesen sein könnte, auf der die Ausreißer Tom, Huck und Joe als vermeintliche Seeräuber gegen das Heimweh kämpften.
In „Tom Sawyers Abenteuer“ heißt Hannibal „St Petersburg“. Es handelt sich um eine kleine amerikanische Gemeinde, wo jeder jeden kennt und leben lässt, mit Kirche, Schule und öffentlichen Festen – und jeder Menge wilder Buben, die sich in der Schule furchtbar langweilen und in einem fort Blödsinn anstellen. Was sich in dieser Beschreibung wie das Bühnenbild eines langweiligen Jugendbuches anhört, ist die Tribüne für einen der schönsten amerikanischen Romane, den man tatsächlich in jedem Alter neu lesen kann.
Aus der Perspektive eines nachsichtigen, weisen Erzählers berichtet der alte Mark Twain von den Tom Sawyers Abenteuern, seiner Tante Polly, dem strebsamen Bruder, seinen Erfahrung und seiner pittoresken Weltsicht. Was mir als Knabe wie eine kunterbunte und unterhaltsame Lebenswelt erschienen war, kam mir nun im reiferen Alter vor wie eine Utopie, wie die Utopie einer lichtdurchfluteten, liebevollen, unschuldigen Jugend mit all ihren Ideen, ihrer Tiefe und sogar der ersten Liebe, die – wie das in den meisten Utopien der Fall ist – ganz ohne Sex abgeht. Es kommt sogar zur Konfrontation mit dem Bösen, dargestellt in der Figur des Halbblutes „Indianer Joe“, das keineswegs weichgespült daherkommt, aber am Ende – auch das ein Kennzeichen der Utopie – seiner gerechten Strafe nicht entgeht. Alles, was geschieht, wird mit so viel Anschauungskraft und Poesie beschrieben, dass der Leser meint, mitten zwischen den Jungs zu sein. Das ganze Buch ist ein einziger Genuss, auch wenn der eine oder andere einige der Szenen und Geschichten ganz besonders liebt. Meine Lieblingspassagen: der Käfer und der Hund beim Sonntagsgottesdienst und die Abenteuer der Ausreißer Tom, Huck und Joe auf der Insel im großen Strom.