Cormac McCarthy gehört zu den großen amerikanischen Romanciers, die seit Jahrzehnten vom Literaturnobelpreiskomitee in Stockholm übersehen werden. Ein in alle Kultursprachen übersetztes Oeuvre von zehn großen Romanen bleibt auf eine penetrante Weise unbeachtet, während ein Zeitgeistgigant nach dem nächsten den literarischen Olymp erklimmt.
Einer der Gründe für diese Nichtbeachtung liegt zweifellos in der ausgeprägten Antimodernität dieses Autors. Denn bei Cormac McCarty wird man Trans- und Gendertum ebenso wenig finden wie emanzipierte Quotenfrauen. Cormac McCarthy ist ein unzeitgemäßer Prophet, der nicht müde wird, vor dem Untergang einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Welt zu warnen und ihre Grausamkeiten und Zumutungen anhand einer Spezies darzustellen, die immer weniger Anhänger hat: am weißen, leidenden, gescheiterten Mann im mittleren Westen der USA. Cormac McCarthy interessiert sich nicht für sexbesessene Solipsisten wie Michel Houellebecq oder bürgerliche Familienkrisen wie Jonathan Franzen, sondern sein Thema sind die Gescheiterten, die unter die Räder Gekommenen, die in ihrer Gefallenheit der Gesellschaft ihr eigenes Wesen als Fratze widerspiegeln.
Schon McCarthys erstem Roman „The Orchard Keeper“ aus dem Jahre 1965 (übrigens erst vor kurzem ins Deutsche übersetzt) spielt im gesellschaftlichen Abseits und beschreibt mit drastischer Sprache eine Mordgeschichte aus Tennessee. „Outer Dark“(1968) erzählt vom bitteren Schicksal eines verwahrlosten Geschwisterpaares. Im Mittelpunkt von „Child of God“ (1974) steht der Werdegang eines nekrophilen Massenmörders, bei dem es schwerfällt zu glauben, dass er noch „ein Kind Gottes“ ist. In seinem vierten Roman „Suttree“ (1979, dt:: „Verlorene“) verlässt McCarthy die Sphäre der Perversionen, aber nur, um eine Gemeinde von „normalen“ Versagern umso präziser zu beschreiben. Kein Wunder dass diese herbe literarische Kost die Leser verstörte und sich bei aller wohlwollenden Kritik die Verkaufszahlen seiner Bücher lange Zeit in Grenzen hielten.
Höhepunkt und Abschluss dieser ersten Phase des McCarthyschen Werkes bildete der Roman „Blood Meridian“ (1985, dt.: Die Abendröte im Westen), der die Exzesse der Indianerkriege des späten 19. Jahrhunderts wie einen blutigen Totentanz darstellte. Der Roman rüttelte auf erschütternde und überzeugende Weise am Selbstverständnis der USA und katapultierte seinen Autor in die erste Riege der amerikanischen Schriftsteller – auch wenn sich der Massenerfolg noch immer nicht einstellen wollte.
Das änderte sich erst mit Veröffentlichung der „Border Trilogie“ in den 1990er Jahren. Hatte der Autor in „Blood Meridian“ den Untergang der Indianer schonungslos beleuchtet, so entfaltete er in seiner dreibändigen Bordertrilogie das Drama der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Der erste Band „All The Pretty Horses (1992, dt.: „All die schönen Pferde“) verkaufte sich auf Anhieb 190.000 mal. Ähnlich gut liefen die Fortsetzungen „The Crossing“(1994, dt.: „Grenzgänger“) und „Cities of the Plain“ (1998, dt.: Land der Freien).
2005 erschien „No Country for Old Men“, das in der Verfilmung der Cohen Brüder ein cineastischer Welterfolg wurde und fünf Oscars einheimste. 2006 veröffentlichte Cormac McCarthy im Alter von 73 Jahren das dystopische Romanwerk „The Road“, das sich mehr als eine Million mal verkaufte und ebenfalls erfolgreich verfilmt wurde. Für viele war „The Road“ der logische Abschluss des McCarthy´schen Gesamtwerkes. Die in den ersten neun Büchern beschriebene katastrophal friedlose und dem Absturz entgegentaumelnde Welt war endlich in einer Apokalypse zusammengebrochen – imaginiert mit einer alttestamentarischen und zugleich poetischen Sprachwucht, die ihresgleichen suchte. Danach war eigentlich nichts mehr zu sagen. Abgesehen von einem Drehbuch zu dem Ridley Scott Film „The Conseulor“ schwieg die Kassandra aus dem mittleren Westen. Wie es schien, hatte er alles gesagt, was zu sagen war.
Dachte man. Bis in diesem Herbst, 16 Jahre nach „The Road“, der fast 90jährige McCarthy mit dem Doppelroman „Der Passagier“ und „Stella Maris“ überraschend auf die literarische Bühne zurückkehrte. Was hat es damit auf sich?
Der Doppelroman „Der Passagier“ und “Stella Maris“ beschreibt das Schicksal von Bobby und Alicia Western, einem Geschwisterpaar aus dem mittleren Westen der USA. Alicia Western ist eine hochbegabte, aber schizophrene junge Frau, die sich selbst in die Nervenheilanstalt „Stella Maris“ eingeliefert hat, Bobby Western ein vagabundierender Tiefseetaucher, der sich in der Halbwelt von New Orleans herumtreibt. So unterschiedlich wie die Geschwister, so unterschiedlich sind auch die beiden Romane, die ihnen zugeordnet sind. „Stella Maris“, der Roman Alicias, besteht vollständig aus Dialogen, die die junge Frau mit ihrem Psychiater führt. Im doppelt so langen Roman „Der Passagier“ steht der Bruder Bobby im Mittelpunkt, der bei einem Tauchgang im Golf von Mexiko entdeckt, dass ein Passagier in einem abgestürzten Flugzeug fehlt.
Wer erwartet, dass sich nach dieser Einleitung in „Der Passagier“ eine kohärente „Story“ entwickelt, wird allerdings enttäuscht. Zwar kommt eine durchaus kafkaeske Stimmung auf, als Bobby Western in das Fadenkreuz des FBI gerät, dann aber verschwindet die Frage nach der Verbleib des Passagiers ebenso spurlos aus dem Roman wie Bobby Westerns Katze. Stattdessen reist der Protagonist durch den amerikanischen Süden und trifft eine Reihe schräger Gestalten, mit denen er über die Frauen, die Kennedymorde oder moderne Physik diskutiert. Einerseits weiß er locker über Vektorbosonen, die String-Theorie und den „Abelschem Higgs Mechanismus“ zu parlieren, andererseits schneidet er einem toten Hirsch das Fleisch aus dem Körper und isst es roh mit Salz und Pfeffer. Was ihn jedoch wirklich beschäftigt, liegt in der Vergangenheit: es sind die Erinnerungen an die Mutter, die wie ein Schatten durch ihr Leben ging, an den Vater, der sich an der Entwicklung der Atombombe beteiligt hatte und vor allem an seine tote Schwester, die die Liebe seines Lebens gewesen war.
Diese inszestuöse und unerfüllte Geschwisterliebe bildet den Kern, um den beide Romane kreisen, auch wenn die Geschichte dieser Liebe an keiner Stelle der beiden Bücher jemals zusammenhängend erzählt wird. Während Alicia bereit ist, sich über die Konventionen hinwegzusetzen und sich umbringt, als sich dies als unmöglich erweist, bleibt ihr Bruder in gesellschaftlichen Tabus gefangen. Cormac McCarthy entfaltet diese Geschichte in einer manchmal derben, manchmal poetischen, immer aber bildhaften Sprache, mit der dem Autor Erzählpassagen von schmerzhafter Eindringlichkeit gelingen. Den langen Exkurs über das Ertrinken in „Stella Maris“ wird kein Leser so schnell vergessen, ebenso wenig die Fantasien über den Atombombenabwurf auf Nagasaki. „Sie sahen Vögel am Abendhimmel in Flammen aufgehen, geräuschlos explodieren und niederfallen wie brennende Partyüberraschungen.“
Trotzdem sind es nicht wenige Sprünge und Brüche, die der Autor dem Leser zumutet. Bobby Western wirkt wie ein Zwitter, zusammengesetzt aus den ersten Entwürfen des Manuskriptes, das McCarthy nach eigener Auskunft vor über 20 Jahren schrieb, und den naturwissenschaftlich-mathematischen Interessen der späteren Jahre, die der Hauptfigur aufgesetzt wurden wie ein schlecht sitzender Cowboyhut. Die Schwester Alicia ist ein reiner Gedankenträger, die viel Kluges und Bedenkenwertes ausplaudert, aber alles andere als ein glaubhaft konzipierter literarischer Charakter ist. Die in kursive Schrift gesetzten Einschübe, in denen sich ein Zwerg als Abgesandter einer schizophrenen Anderswelt bemerkbar macht, stehen derart quer zum Text, dass man der Versuchung widerstehen muss, einfach weiter zu blättern.
So ergibt sich am Ende ein zwiespältiges Bild. Noch immer gelingt es McCarthy, vor allem in „Der Passagier“, eine atmosphärische Dichte zu schaffen, in der er praktisch alles erzählen kann, ohne das ihm der Leser von der Fahne springt. Auf der anderen Seite werden die Kenner der McCarthy´schen Bücher nichts Neues entdecken, aber hier und da den typischen „Drive“, die Geschlossenheit der Form und die gelungenen Charakterzeichnungen vermissen. Manchmal hat man sogar das Gefühl, als würde Cormac McCarthy mit dem vorliegenden Doppelroman seinem abgeschlossenen Werk noch etwas hinterherrufen, was er schon besser und prägnanter gesagt hat. Ob sich der Altmeister mit diesem literarischen Nachschlag – jedenfalls gemessen am hohen Niveau und der Homogenität seines bisher erschienenen Werkes – einen Gefallen getan hat, muss deswegen offenbleiben.