Cormack McCarthy war für mich die Leseentdeckung der letzten Jahre. „Die Straße“, das Buch, mit dem der Autor der internationale Durchbruch gelang, dann die dreibändige Bordertrilogie „All die schönen Pferde“, „Grenzgänger“ und „Land der Freien“ eröffneten für mich eine neue Lesewelt. Immer war die Rede von Männern, von Vätern und Söhnen, Natur, Weite, Bestimmung, Charakter – ein herrlich unzeitgemäßes Bühnenbild für unsere weichgespülte, durchgegenderte Kulturszene, die mit einer Sprache daherkam, die den Leser sofort ergreift.
„Verlorene“ gehört zu den früheren Werken Cormack cCarthys. 650 Seiten lang begleiten wir Cornelius Suttree, einen Mann unbestimmten Alters, drei elende Jahre lang als Fischer, Landstreicher, Trinker und Träumer durch sein deprimierendes Leben. Wie Oceanfrogg, J-Bone Ruby, der Lumpensammler, den Indianer, den Melonenvögler Gene Harrogate und eine ganze Galerie schräger Vögel lebt auch „Butt“ Suttree als Mitglied eines frühen Südstaaten-Prekariats in einer baufälligen Unterkunft am Ufer des großen Flusses in Knoxville Tennessee. Manche erfrieren in den eiskalten Wintern, manche fallen auch in den Fluss und ertrinken, andere werden erschossen, erschlagen oder sterben elend an inneren Krankheiten. Alle aber sind Alkoholiker, die ihr Geld in sinnlosen Rauforgien verprassen. Immer wieder werden sie in Arbeitslager, Gefängnisse oder Krankenhäuser eingewiesen, nur um anschließend in der sogenannten Freiheit ihr sinnloses Leben fortzusetzen. Die Frage, was mit diesen Menschen los ist und warum sie gegen ihr Schicksal nicht protestieren, bleibt offen, weil sich McCarthy hier, anders als in seinen späteren Büchern, jeglicher moralisierenden Kommentierung enthält. Nur einmal, als Suttree eine chaotische Reise zum Begräbnis seines Sohnes unternimmt, wird deutlich, dass er wie alle anderen ein Gestrandeter des Lebens ist, ein „Verlorener“, der nach privaten Katastrophen seinen Halt im bürgerlichen Leben so endgültig verloren hat, dass ihn nichts mehr dahin zurückzieht.
Der einzige Ausflug aus diesem elenden Leben währt nur kurz. Als Liebhaber der farbigen Prostituierten Joyce kann Suttree sich kurzfristig in besseren Hotels einquartieren, er wird eingekleidet, erhält einen eigenen Wagen und lebt das faule Leben einer Drohne, während Joyce in den Großstädten der weiteren Umgebung ihrem einträglichen Gewerbe nachgeht. Am Ende zerbricht auch diese kurze Liaison an den Unzulänglichkeiten der Liebenden. Suttree verlässt nach einem heftigen Streit einfach den Wagen der Geliebten und kehrt zu Fuß in sein baufälliges Hausboot am Fluss zurück. Die restlichen achtzig Seiten bringen nichts Neues. Suttree und seine Kumpels rutschen immer „tiefer in die Scheiße“ (Zitat!), bis sie ihr Schicksal ereilt. Dass ganz im Unterschied zum gesamten Tenor des Buches ganz am Ende des Buches Suttree plötzlich mit sauberern Kleidern und einem kleinen Köfferchen als Anhalter Stadt und Fluss verlässt, kann man nur als Traum verstehen.
Ich habe dieses Buch passagenweise mit großer Anteilnahme gelesen, und wie immer kann einen das Gruseln überwältigen, wenn McCarthy die Details aus dem gesellschaftlichen Bodensatz beschreibt. Die Szenen, in denen Gene Harrogate ein Schwein ermordet oder Suttree bei 14 Grad Minus auf den Planken seines Hausbootes friert, sind pure Meisterschaft. Auf der anderen Seite aber blieb mir der Charakter der Hauptfigur Suttrees unverständlich – er erschien mir in seinem teilnahmslosen Umherwandeln im Reich der Verlorenen wie eine seelische Teflonpfanne an dem nichts hängen bleibt. Auch alle anderen Gestalten, vielleicht mit Ausnahme von Gene Harrogate, bleiben blass, obwohl von ihnen in einem fort 650 Seiten lang die Rede war. Insgesamt erreicht dieses Buch trotz der eindringlichen Sprache und der passagenweise extrem verdichteten Atmosphäre noch nicht ganz die Meisterschaft der späteren Brodertrilogie oder der “Straße“. Nicht ganz, heißt bei Cormack McCarthy aber natürlich immer noch fünf Punkte.