„Wenn Dein Vater oder deine Mutter stirbt, verschwindet ein Planet, und der Nachthimmel wird nie wieder so aussehen wie zuvor. Es spielt keine Rolle, wie erwachsen wir sind, wenn wir sie verlieren. Und wenn beide von uns gegangen sind, ist uns, als fehle uns fortan ein Dach über dem Kopf – ein unsichtbarer Schutz, die unsichtbare Verteidigungslinie zwischen uns und der Sterblichkeit – verschwunden.“
Diese wunderbare Sentenz befindet sich auf Seite 1005 des vorliegenden Buches, und sie verdeutlicht zusammen mit zahlreichen anderen Stellen die besondere Stärke des Werkes. Im Unterschied zu so vielen Romanen, die ihre sprachlichen Dürftigkeit als Methode kaschieren, ist es geradezu ein Genuss, sich eine so umgangreiche Geschichte von einer begnadeten Erzählerin vorführen zu lassen.
„Wohin die Krähen fliegen“ erzählt die Geschichte der kleinen Madeleine McCarthy und ihrer kanadischen Familie, ihrem Vater Jack, der Mutter Mimi und dem Bruder Mike. Jack McCarthy ist Offizier der Royal Canadian Airforce und als solcher mit seiner Familie im Jahre 1962 nach Centralia versetzt worden, einem Luftwaffenstützpunkt im kanadischen Bundesstaat Ontario, wo die McCarthys auf zahlreiche andere Familien treffen, die auch alls von weit her kommen und bald wieder woanders hin versetzt werden dürften. Hier leben sie ein gutbürgerliches Leben, das sich von heute aus wie die reine Idylle ausnimmt: Vater und Mutter besitzen ihre klaren Rollen, ohne darunter zu leiden, die Kinder sind artig und wohlgeraten, die Nachbarn freundlich und das Einkommen gesichert. Allerdings gleicht dieses friedvolle Leben der McCarthys und ihrer Nachbarn einer hochgradig gefährdeten Membrane, dem erhebliche Gefahren drohen – Gefahren aus dem Fernbereich der großen Politik wie aus dem näheren Umfeld gleichermaßen. Wie eine Ahnung des absoluten Verhängnisses zieht die Kubakrise an den erschrockenen McCarthys vorüber. Madeleine, ein aufgewecktes und unschuldiges Kind, wird in ominösen „Turnstunden“ nach drei Uhr von ihrem Klassenlehrer Mr. March mehrfach sexuell missbraucht, was sie aber unbegreiflicherweise ebenso wie andere Mädchen, denen das gleiche wiederfahren ist, ihren Eltern verschweigt. Sogar als ihre Freundin, die kleine Claire, sexuell geschändet und ermordet aufgefunden wird, kommen die Verfehlungen des Lehrers nicht an den Tag. Stattdessen wird der unschuldige Rick Froehlich zum Tode verurteilt und schließlich zu lebenslanger Haft begnadigt. Einen geradezu tragischen Zug gewinnt die Geschichte dadurch, dass Madeleines Vater Jack McCarthy dem unschuldigen Rick ein Alibi geben könnte, es aber nicht kann, weil sonst eine verdeckte Geheimdienstoperation, von der niemand wissen darf, ans Licht der Öffentlichkeit kommen würde.
Was hier mit dürren Worten nur umrissen werden kann, wird auf den ersten 750 Seiten des Buches in meisterhafter literarischer Feinarbeit entfaltet – man kann sich fast verlieren in Erlebniswelt der McCarthys, verzweifelt mit dem Vater, der wie im griechischen Drama schuldlos schuldig wird und fürchtet um das Leben der kleinen Madeleine, bis es schließlich in so furchtbarer Weise die nicht minder liebreizende Claire trifft. Wie in einem großen Gesellschaftsroman werden gleichsam nebenbei auch noch die offenen und verdrängten Probleme der kanadischen Gesellschaft aufgegriffen: der Gegensatz von Anglo- und Frankokanadiern, die fortdauernde Diskriminierung der indianischstämmigen Metis, das Verhältnis von Vätern und Töchtern, die Unwägbarkeiten der Geheimdienstarbeit, der Gegensatz von Ost und West und die Existenz nationalsozialistischer Kriegsverbrecher, die als Raketenforscher in amerikanischen und kanadischen Diensten arbeiten – alles fokussiert in den Horizont der neunjährigen Madeleine, die das meiste davon mit bekommt und zu verstehen sucht.
Das letzte Viertel des Buches spielt 23 Jahre später. Über dem Leben der McCarthys hat sich eine Düsternis ausgebreitet, die in einem schrecklichen Kontrast zur intakten Familienwelt des ersten Teiles besteht. Madeleine McCarthy ist zum Enzsetzen ihrer Mutter lesbisch geworden, Mike McCarthy ist in Vietnam gefallen, der Vater stirbt an einer Herzerkrankung. Madeleine ist zwar inzwischen eine erfolgreiche Komikerin, leidet aber trotzdem an neurotischen Persönlichkeitsstörungen, die sie erst im Zuge einer Therapie auf den frühen Kindesmissbrauch in Centralia zurückführen kann. Aber auch diese Einsicht ergibt keine Linderung: Mr. March ist verstorben, wobei sich am Ende sogar herausstellt, dass er entgegen aller Wahrscheinlichkeit gar nicht der Täter war. Wer die kleine Claire ermordet hat, wissen am Ende nur die Krähen und Madeleine – aber sie verschweigt es, weil die Wahrheit ohnehin niemandem mehr nutzen würde.
Ich habe dieses Buch, insbesondere den Hauptteil über die Ereignisse in Centralia mit atemloser Spannung gelesen, und im Wesentlichen stimme ich der enthusiastischen Rezeption des Buches zu – wenngleich mit einer Einschränkung. Denn den Umstand, dass weder Madeleine noch die anderen Mädchen, die an den „Turnübungen“ von Mr. March teilgenommen hatten, ihren Eltern, ihren Freundinnen oder der Polizei den nahe liegenden Hinweis gaben, dass es in Centralia einen klar identifizierbaren Kinderschänder gibt, halte ich für absolut unwahrscheinlich. Folgt man der Romankonstruktion, war die Scham und die Schuldangst der kleinen Mädchen einfach zu stark, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Dieser eigentümlichen Unwahrscheinlichkeit, auf der die ganze Romankonstruktion beruht, verdankt sich aber die Atmosphäre der Doppelbödigkeit, unter der die kleine Madeleine so leidet und die der Roman sprachlich so grandios beschwört. Es ist dann aber fast kurios, wie es der erwachsenen Claire plötzlich im Alter von 32 Jahren nach einer Therapiesitzung wie Schuppen von den Augen fällt, dass ja Mr. March der Täter sein könnte und sie sofort die Polizei anruft. Dass er es am Ende dann doch nicht gewesen ist sondern dass die Recherche zu einem ganz anderen und überraschenden Ergebnis führt, kann mit diesem Mangel nur bedingt versöhnen.
So ergibt für mich sich am Ende ein zwiespältiges Bild. Ich war gefesselt und begeistert von der erzählerischen Kraft und der sprachlichen Geschliffenheit des Werkes – und zugleich irritiert von den Mängeln der Handlungsführung. Je nachdem wie stark man diese Mängel gewichtet oder überhaupt wahrnimmt) wird man auch das vorliegende Werk bewerten müssen.