Es ist die Form, die das Kunstwerk macht. Das trifft in besonderer Weise für den Roman zu. Nur die Form bewahrt ihn vor der Geschwätzigkeit, hat mir mein Deutschlehrer beigebracht. Ohne Form sind sie wie umgekippte Milch.
Soweit die klassische Romantheorie, der ich im Prinzip zustimme. Aber keine Regel ohne Ausnahme, denn es gibt auch Romane, die ohne ersichtliche oder Geschlossenheit daherkommen und die stattdessen die wie unendliche Wundertüten die Ideen und Reflektionen ihrer Schöpfer reflektieren und das mitunter über 1000 Seiten und mehr. Der klassische Fall eines solchen Romans ist Musils „Mann ohne Eigenschaften.“ Ein anderes. Beispiel ist Peter Weiß „Die Ästhetik des Widerstands“
Nun hat es Ian McEwan auch versucht. Mit seinem Roman „Lektionen“ offeriert er einen Lebens- und Weltroman, der durch nichts weiter zusammen gehalten wird als die Reflektionen und Erinnerungen des Autor, die sich in einem unendlichen Bewusstseinstrom Bahn brechen. Was haben Ian McEwan, Musil und Peter Weiß gemeinsam? Es sind Großmeister der Sprache und der Reflexion, weswegen ihre Bücher auch ohne erkennbare Form „funktionieren.“ Eine eigentliche Handlung gibt es nicht, beziehungsweise sie ist Nebensache. Was bei Musil ein kuk Beamter als Vorbereiter eines Monarchie-Jubiläums, bei Peter Weiß ein Kommunist in der Diaspora, , das ist bei das ist bei McEwan dein grisch verlassener Ehemann mit einem Kleinkind. Es könnte auch ein Hausmeister, Tierpfleger oder Elektroinstallateur sein, Hauptsache, ihr Leben bietet ihnen hinreichend Gelegenheit, über sich und die Welt zu reflektieren.
McEwans Protagonist heißt Roland, er ist ein Mann mit vielen Eigenschaften und Talenten, aus dem aber letztlich nichts geworden ist. Dass ihn seine Frau kurz nach der Geburt des gemeinsamen Babys verlassen, gibt schon einmal jede Menge Stoff für Reflexion und Trauer, die allerdings bald den unmittelbaren Umkreis der Gegenwart verlassen und in die Erinnerungen und die Familiengeschichte abschweifen. Souverän nur an den eigenen Eingebungen interessiert, kommen und gehen die Themen wie Überraschungseier in einer Wundertüte: die Geschichte der Geschwister Scholl, Josef Conrad und seine Figuren, die Kubakrise, der Untergang der DDR, ein sexueller Missbrauch, den der Protagonist durch seine Klavierlehrerin erlitten hat und vieles andere mehr verbinden sich zu einem Zeitpanorama der gesamten Lebenszeit des Autors. eil es vollkommen unmöglich ist, in diesem Erzählstrom einen roten Faden zu finden, bleibt mir nur meine Befindlichkeit bei der Lektüre zu schilden. Und die war gut. Ich habe viele für mich neue Details zur Kenntnis genommen, mich an zahlreichen sprachlichen Leckerbissen delektiert und mich keine Sekunde gelangweilt, was bei einer 700 Seiten Printausgabe bzw. einem 22 Stunden Hörbuch etwas heißen will. Ich weiß, das kann kein Kriterium für literarische Güte sein, aber so war es.