Der Begriff des Mittelalters entstand in der Renaissance, und zwar in durchaus in pejorativer Absicht. Für die Philosophen der Renaissance waren die 1000 Jahre zwischen dem Ende der Antike und ihre eigenen Epoche eine Epoche des Niedergangs, allenfalls eine „mittlere“ Zeit, die die Antike und ihre „Wiedergeburt“ (Renaissance) miteinander verband. Diese Kritik des Mittelalters ist längst überholt, und zahlreiche Werke haben die Einmaligkeit und Besonderheit dieser Epoche für sich und für die folgenden Zeiträume nachgewiesen sind (Link).
Das ist es aber nicht, worum es dem Mediävisten Michael Borgholte geht. Er stört sich daran, dass das Mittelalter als universalhistorischer Begriff im Grunde ein eurozentrischer Begriff ist, dessen Eckpunkte für andere Weltteile wie Indien oder China keine Bedeutung haben. Sein Ziel besteht deswegen in der Konzeption einer „globalen Geschichte des Mittelalters“ als eines trikontinentalen Eaumes (Europa, Asien, Afrika) und in der Nachzeichnung seines schrittweise Zusammenwachsens – bis diese Epoche schließlich durch die Entdeckung weitere Kontinente aufgebrochen wird.
Zunächst ist diese Trikontinentalität nur eine virtuelle, dann wächst sie Schritt für Schritt, wenn gleich in unterschiedlichen Dichte, zusammen. Motoren dieser trikontinentalen Integration sind trikontinentale Imperien wie etwa das Römische oder das Osmanische Reich, missionierende und expandierende Religionen, hier, vor allem der Islam, der auf allen drei Kontinenten erfolgreich ist – und schließlich Handelsreisende über Land und Meer. Am Ende des Jahrtausends, eigentlich noch bevor die trikontinentale Welt wirklich integriert ist, ändert sich das Bühnenbild infolge der europäischen Entdeckungsreisen. Es hebt sich der Vorhang, und sichtbar wird eine Neue Welt. Die trikontinentale Epoche, das globale Mittelalter, ist zu Ende.
Was hier in knappen Worten ansatzweise entfaltet wird, wird im vorliegenden Buch in einer Breite ausführt, die den Leser an den Rand seiner Fassungskraft bringt, nicht nur was die Theoriebildung, sondern auch, was die unübersehbar Faktenmassen betrifft, die der Autor seinen Lesern auftischt. Man lese nur die Darstellung der ersten Jahrhundert der islamischen Geschichte, die mit der Trikontinentalität im Kern wenig zu tun haben, ohne dass der Autor darauf verzichtet, den Leser über allen möglichen muslimischen Denkschulen zu informieren. Aber geschenkt. Geschichte hat immer auch eine narrativ Dimension, und die wird in dem vorliegenden Buch auf dem Hintergrund eines unfassbaren Überblicksreichlich reichlich entfaltet. .
Wie aber steht es um die Nachvollziehbarkeit der neuen trikontinentalen Perspektive? Um es ganz ehrlich zu sagen, ich weiß es nicht, denn der Charme des klassischen Mittelalters als Epochengrenze lag ja gerade darin, dass an seinem Beginn wie an seinem Ende besondere Ereignisse definiert wurden, die für jeden nachvollziehbar eine Zeitenwende repräsentierten. Im globalistischen Maßstab sind solche Markierungen(abgesehen von dem Beginn der europäischen Entdeckungszeit) nicht zu erkennen. Dem Zusammenbruch der Antike und dem Durchbruch des Christentums, die in der europäischen Geschichte das Mittelalter begründen, stehen in Indien oder China keine vergleichbaren einschneidenden gleichzeitigen Ereignisse gegenüber. Auch die Trikontinentalität entstand ja nicht zu Beginn des Mittelalters im sechsten Jahrhundert, sondern war als räumliche und maritime Möglichkeit schon viel früher präsent. So bleibt, bei aller Freunde über das vorliegende weltgeschichtlich so gehaltvolle Kompendium ein gewisses Unbehagen an der Theoriebildung. Aber dafür entschädigter Autor, wie bereits erwähnt, mit ausführlicher Geschichtsschreibung, aus allen Teilen der Welt. Nicht einmal die „Fremde“, d.h. der amerikanische Kontinent, der in der trikontinentalen Epoche überhaupt noch nicht im Fokus stand, wird bei diesem narrativen Freudenfest ausgespart. Wer sich also über die neun nordamerikanischen Kulturkreise Nordamerikas im ersten Jahrtausend, übe die Menschwerdung in Afrika, über die muslimischen Charidschiten im siebten Jahrhundert, über birmanische Weltkarten und den chinesischen Fernhandel informieren will, ist bei dem vorliegenden Werk bestens aufgehoben.