Michel Houellebecq: Serotonin

Wie so oft bei Michel Houellebecq handelt es sich bei dem namenlosen Ich-Erzähler und Protagonisten um einen staatlichen Angestellten, diesmal um einen Spezialisten im europäischen Landwirtschaftsrecht. Er ist wohlhabend, ohne reich zu sein, ein wenig misogyn, was seiner sozialen Wahrnehmung zugutekommt, Mitte vierzig und von depressiven Stimmungen geplagt. Seine Eltern haben sich nach einem gemeinsam verzogenen Selbstmord in einem einzigen Sarg begraben lassen, was dem Sohn imponierte. Seine Geliebte, die Japanerin Suzo ist eine oberflächliche egoistische, Schlampe, deren Hauptvorzug in ihrem „jederzeit zugänglichen Arsch liegt“. Ein erheblich freundlicheres, ja sehnsüchtiges Angedenken bewahrt der Protagonist seiner jungen Geliebten Camille, mit der er die Beziehung allerdings auch verbockt hat

Das Buch beschreibt den langsamen Abstieg des Protagonisten, sowohl was die Frauen, sein Vermögen, seine Stellung wie auch seine Befindlichkeit betrifft. Am Ende kommt er nur noch über den Tag, wenn er regelmäßig „Captorix“ (ein Synonym für ein serotoninanregendes Präparat) einwirft. Captorix heilt aber nicht sondern „dämpft“ nur das Unerträgliche, aber um den Preis von Niedergeschlagenheit, Antriebsarmut und Impotenz.

Diese Verfallsgeschichte wird mit einer kristallenen Klarheit in einer geschliffenen Sprache geschildert, reflektiert und in sozial- und geistesgeschichtliche Zusammenhänge eingeordnet, die alle in das gleiche Ergebnis münden: Was bin ich doch für eine arme Sau, das aber auf hohem Niveau.  Am Ende, als die Vermögensressourcen schmelzen, nimmt sich der Protagonist eine Einzimmerwohnung in einem Pariser Hochhaus, kappt alle Beziehungen zur Außenwelt, lässt sich über einen Nahrungslieferdienst verpflegen und plant seinen Selbstmord. Kurz bevor aus dem Fenster springt, um viereinhalb Minuten lang einhundert Meter tief aus dem 13. Stock zu stürzen, endet das Buch.

Keine erfreuliche Geschichte, und doch habe ich das Buch mit Anteilnahme und Interesse gelesen, wusste aber nach Ende der Lektüre zunächst auf Anhieb nicht, warum. Ein Grund für den merkwürdigen Unterhaltungswert dieser düsteren Geschichte ist der makabre Galgenhumor, mit dem Michel Houellebecq das Debakel seines Protagonisten schildert – allerdings, ohne sich über ihn zu erheben oder ihn zu verspotten. Inhaltlich ist es schwer, die Thematik des Buches auf einen Nenner zu bringen. Wie immer geht es um Einsamkeit, Sexualität, Verzweiflung und  Kommunkationsunfähgikeit, mit einem Wort: um eine in der seelischen Struktur angelegte Lebensuntüchtigkeit, die schon bei gesellschaftlichen Gutwetterbedingungen Probleme hat, durch den Tag zu kommen. Im vorliegenden Buch aber herrschen keine gesellschaftlichen Gutwetterbedingungen, sondern der globalistische Krisenmodus, der den Einzelnen zerquetscht. Ein Studienkollege des Protagonisten, der sich als Landwirt in der Normandie niedergelassen hat, ist verschuldet, geschieden, verbittert und sucht schließlich im Feuergefecht mit der Polizei den Tod. Beim Erscheinen des Buches in Frankreich war diese Passage im Zusammenhang mit den Gelbwestenprotesten hochaktuell. Wenn man so will, ist das neben der Nachzeichnung individueller Verzweiflung die zweite Thematik des vorliegenden Buches: wenn die individuelle Verzweiflung selbst bei seelisch gesunden Menschen überhandnimmt, wird sie massenhaft und kollektiv und führt zum gesellschaftlichen Zusammenbruch. Nicht jeder springt in seiner Not aus dem Fenster. Manche schlagen auch alles kurz und klein.

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