Milgram: Das Milgram-Experiment

Milgram ExperimentUnter den klassischen sozialpsychologischen Experimenten, die in das Alltagsbewusstsein unserer Zeit eingegangen sind, ist das Milgram Experiment wohl das berühmteste. Jeder scheint die erschütternden Ergebnisse der Versuche in den Labors von New Haven zu kennen und für seine eigene Argumentation zu benutzten – die wenigsten aber, so scheint es, haben das Buch wirklich gelesen.
Das ist schade, denn dieser sozialwissenschaftliche Klassiker bietet viel mehr als die sattsam bekannten experimentellen Beweise für die Verführbarkeit des Menschen durch Autorität – es besitzt ist in seinem ganzen Aufbau und seiner Komplexität den Rang eines Lehrbuches zur Einführung in das sozialwissenschaftliche Denken und Urteilen.
Schon die einleitenden Kapitel, in denen Stanley Milgram den operationalen Versuchsaufbau erläutert, sind ein Lehrstück für wissenschaftliche Systematik. Um die Gehorsamsbereitschaft von Menschen gegenüber Autoritäten wirklich messen zu können, wählt Milgram ein Pseudoproblem, das die Probanden komplett irreführt. Während sie denken, sie seien nur Bestandteil eines lernpsychologischen Experimentes, ist es in Wahrheit ihr Verhalten, dass in exakter Skalierung und Quantifizierung festgehalten wird. Natürlich wurden die Versuchspersonen nicht einfach nur per Zufall sondern repräsentativ ausgewählt. Um eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, wurden Notation, Rückkopplung, Kleidung und sämtlich sprachliche Anspornmaßnahmen durch die Versuchsleitung standardisiert.
Bekanntlich waren die Befunde, die in den späten Sechziger Jahren bekannt wurden, zutiefst beunruhigend. Scheinbar im Dienst der Wissenschaft, schockten die Versuchspersonen die vermeintlich hilflosen Probanden fast zu Tode. Für viele linke Theorien, die den Menschen ohnehin nur als ein verführbares Lamm betrachten, das dringend eines klugen Schäfers bedarf, kamen diese Daten natürlich wie gerufen.
Dabei sind es gerade nicht die sattsam bekannten Standardversuche 1-4, in denen nur die Auswirkung der Rückkopplung auf die Gehorsamsbereitschaft getestet wurde, sondern die zahlreichen Variationen des Grundexperimentes, die die wahre Faszination des Buches ausmachen. Wie verhalten sich Menschen, wenn die Räumlichkeit, also die optischen Insignien der Legitimität, sich ändern(Exp. 5,9,10)? Sind Frauen gehorsamer bzw. grausamer als Männer(Exp.8)? Welche Rolle spielt die personale Darstellung der Autorität(Exp.6)? Wie stellt sich die typische Gehorsamsituation des Mitläufers dar(Exp.18)? Wie verhält sich eine Versuchsperson, wenn sich zwei Autoritäten widersprechen (Exp. 14-16)? Inwieweit können oppositionelle Gruppeneffekte die Wucht der Autorität bremsen (Exp. 17)? Kann ein gewöhnlicher Mensch tatsächlich ohne weiteres in die Rolle der Autorität schlüpfen(Exp. 13 und 13a)? Und ist der Mensch wirklich ein grausames Wesen (Exp. 7 und 11)? Auf alle diese Fragen gibt das vorliegende Buch auf dem Hintergrund genialer Untersuchungsdesigns so überzeugende und bündige Antworten, wie dies im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung nur möglich ist.
Natürlich darf nicht vergessen werden, dass seit den Milgram-Versuchen über vierzig Jahre ins Land gegangen sind. Ob also die Gehorsamsbereitschaft der Menschen nach den pädagogischen Umwälzungen im letzten Drittel des 20. Jhdts. und der allgemeinen Erosion der Autoritäten in allen Lebensbereichen heute noch ebenso hoch ist wie in den guten alten Sechzigern (vor der 68er Revolution), ob also alle Ergebnisse Milgrams bis auf Punkt und Komma für die Gegenwart übernommen werden können, müsste langsam mal wieder untersucht werden. Das ändert aber nichts daran, dass es sich bei dem vorliegenden Buch noch immer um eine besten Einführungen in die experimentelle und theoretische Mikrosoziologie des sozialen Verhaltens handelt, dessen Lektüre ich allen interessierten Schülern und Studenten empfehle.Milgram Experiment

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