Miller: Wendekreis des Krebses

In den Dreißiger Jahren des 20. Jhdts. lebte der 1891 in New York geborene Deutschamerikaner Henry Miller als mittelloser Literat in Paris. Seine Hauptsorgen waren einfach und klar: Wo bekomme ich was zu essen her? Welche Frau („Pritsche“) kann ich als nächstes beschlafen?  Sein  Bauch und sein “Wutz“ regieren seine Wahrnehmung so uneingeschränkt, dass es nur für sehr wenige anderen Beobachtungen reicht – hier und da eine Betrachtung über die Stadt Paris und ihre Besonderheiten, ihre Brücken, ihre Jahreszeiten, die Pissoirs, ein Ausflug nach Le Havre, eine Impression über Malerei, ein Konzertbesuch –  das wars.  Inmitten einer insgesamt recht klammen und schrägen Künstlerkolonie aus Angehörigen der unterschiedlichsten Nationalitäten fällt er damit aber nicht sonderlich auf – die Tage vergehen essend, palavernd, kopulierend, ohne dass sich irgendetwas verändert oder entwickelt. Man trifft sich auf den Terrassen der Cafes, schnorrt hier ein wenig, pumpt sich dort etwas zusammen und hofft, dass einen am Ende eine der zahlreichen Prostituierten mit nach Hause nehmen wird.  Soweit der Plot, der von heute aus gesehen nicht sonderlich viel hermacht. Seinen Reiz entfaltet das Buch deswegen auch nicht auf der Ebene der Handlung sondern der Situationsschilderungen – wobei übrigens die früher so skandalträchtige Schilderung erotischer Einzelheiten heute keinen Neuntklässler mehr hinter dem Ofen hervorlocken würden. Aber in der Schilderung der Alltagsboheme der Dreißiger Jahre  ist Miller ein unterhaltsamer Cicerone, ein Portschnoy in Paris, dem Milieuschiloderungen voller Komik und Humor, aber auch voller Drastik und unverstellter Wahrhaftigkeit so locker und stimmig von de Hand gehen, dass sich das Buch auch knapp siebzig Jahre nach seiner Abfassung noch immer angenehm und vergnüglich lesen lässt.

 

Das ist aber nur die erste, leichteste, aber auch oberflächlichste Art, Henry Miller zu lesen.  Die verantwortungslose Art, wie der Protagonist die Tage totschlägt und seine Mitmenschen hochnimmt, das  Desinteresse, das er dem Innenleben seiner Mitmenschen entgegenbringt und die ausschließliche Selbstbezogenheit, mit dem er durch sein Leben geht, treten dem Leser, je weiter er in der Lektüre des Buches fortschreitet, nicht als heitere Leichtlebigkeit sondern immer deutlicher als fundamentaler Mangel gegenüber. In den wenigen hellen Momenten, in denen der Protagonist über sich selbst reflektiert, wird seine existentielle Geworfenheit sichtbar. Mit Gott, Idealen oder Werten kann er nichts mehr anfangen.  „Ich habe Gott gefunden, aber er ist unzugänglich“, heißt es auf Seite 130 des vorliegenden Buches. „Ich bin nur geistig tot, körperlich bin ich lebendig. MORALISCH BIN ICH FREI, DIE WELT, DIE ICH VERLASSEN HABE, IST EIN ZWINGER. DIE DÄMMERUNG BRICHT AN ÜBER EINER NEUEN Welt, EINER DSCHUNGELWELT, IN DER DIE MAGEREN GEISTER MIT SCHARFEN KLAUEN UMHERSTREIFEN. WENN ICH EINE HYÄNE BIN, SO EINE MAGERE UND HUNGRIGE: ICH ZIEHE AUS UM MICH ZU MÄSTEN.

Das ist die wahre Botschaft hinter der Geschichte der Millerschen Libertinage. Sie ist von heute aus das Zeugnis eines literarischen Nihilismus, der um seine eigene Unzulänglichkeit weiß, ohne sie überwinden zu können. Wenn man diese Ebene des Buches erreicht hat, bleibt einem das Lachen über manche Anekdote glatt im Halse stecken.

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