Bekanntermaßen unterscheiden sich Autoren danach, was sie ihren Lesern zumuten. Manche unterfordern ihr Publikum, manche verlangen viel von ihm. Lluis Quintana-Murci gehört mit dem vorliegenden Buch zweifellos zur zweiten Gruppe, auch wenn er im lockeren Plauderton versucht, so viel Anschaulichkeit wie möglich herzustellen. Um die Wahrheit zu sagen: kein durchschnittlich gebildeter Leser wird den vollen Gehalt des vorliegenden Buches ohne Papier und Bleistift und die Heranziehung von Sekundärliteratur ausschöpfen können. Das spricht nicht gegen das Buch, sollte aber vorab erwähnt werden.
Wer sich aber dieser Mühe unterzieht, wird mit einer Geschichte der Menschheit belohnt, wie man sie bisher noch nicht gelesen hat. Diese Geschichte ist konsequent empirisch-immanent. Der Mensch ist kein Gott und kein Tier, sondern „nichts weiter als ein Produkt seiner Gewordenheit“, und die gute Nachricht ist: Diese Gewordenheit kann neuerdings mit den Methoden der Paläogenetik und diverser Hilfswissenschaften entschlüsselt werden. Die Paläogenetik ermöglicht die Rekonstruktion der Genome ausgestorbener Wesen durch die Analyse von Knochen, Haaren und anderer biologischer Überreste. So entsteht, vereinfacht gesagt, durch die Sammlung und vergleichende Analyse mit unzähligen anderen Rekonstruktionen eine Art Kartographierung des menschlichen Genoms in seiner zeitlichen und geographischen Entwicklung. Plötzlich eröffnet sich ein historischer Horizont, in dem die Geschichte der Menschheit ganz anders und neu gelesen werden kann.
Nach den Befunden der Paläogenetik begann diese Geschichte allerdings schon lange vor der Entstehung des aufrechten Gangs. Vor 15 bis 21 Millionen Jahren spalteten sich Orang Utan und Gorilla aus dem gemeinsamen Stammbaum ab. Schimpanse und Bonobo, die engsten Verwandten des Menschen, trennten sich erst vor etwa 3 Millionen Jahren von der menschlichen Linie. Viel später, also in vorgeschichtlicher Jetztzeit, erschienen der Australopithecus, der Homo Erectus, der Homo Habilis und am Ende die „modernen“ Menschenarten: der Neandertaler, der Denisova-Mensch und der homo sapiens. Im Unterschied zu älteren Auffassungen nach denen der homo sapiens alle konkurrierenden Menschenarten restlos verdrängte, zeigt die Paläogenetik, dass 2- 3 % des menschlichen Genoms auf den Neandertaler zurückgehen, eine Erkenntnis, die man bei der Beobachtung mancher Bundesligapartie immer schon geahnt hatte. Eine ähnliche Quote verdanken wir dem Denisova Menschen. Die gegenwärtige Menschheit ist also ein Produkt der Vermischung auch mit ausgestorbenen Menschenarten. Diese Vermischung, so der Autor, ist uneingeschränkt positiv, weil sie die genetische Diversität des menschlichen Genpools steigert. Genetische Diversität ist nichts anderes als das Potenzial, aus dem heraus sich über Mutation und Selektion adaptive Prozesse vollziehen können.
Die Genom Analyse erlaubt es auch, die „große Odyssee“ des homo sapiens über den Planeten genauer nachzuzeichnen. Paläogenetisch gesichert ist, dass der homo sapiens aus Afrika kam und alle existierenden Menschengruppen auf diesen afrikanischen Adam zurückzuführen sind. Er breitete sich in Europa, Asien, Amerika und schließlich am Ende auch in Australien und Polynesien aus, wobei erstaunliche Detailaussagen möglich werden. So trennen sich Papuas und Aborigines genomtechnisch erst vor etwa 60.000 Jahren von der eurasische Population, noch später entstand die Population der Proto-Amerikaner, d.h. jener sibirische Völker, die nach einer Phase der langen Isolation über die Beringstraße nach Amerika wanderten.
Zu den faszinierendsten Passagen des Buches zählen die zahlreichen Beispiele für genetischen Immunantworten auf wechselnde geografische, bakterioligische und kulturelle Umbrüche. So sorgten positive Mutationen bei Tibetern, peruanischen Quechuas und äthiopischen Amharas dafür, dass sie in großen Höhen gut zurechtkommen. Eine genetisch bedingte erhöhte Laktosetoleranz entstand ziemlich genau in dem Moment, in dem Mensch vor 10.000 Jahren daran ging, Rinder zu domestizieren. Genetisch Erbsubstanz aus uralten Zeiten ist übrigens nicht immer eindeutig positiv. So bewirken bestimmte Gensequenzen aus dem Neanderthalerbe eine erhöhe Kälteunempfindlichkeit, zugleich aber auch eine ausgeprägtere Anfälligkeit für Infektionskrankheiten. Relativ neu ist die Erkenntnis, dass eine bestimmte Mutation im europäischen Genpool die Tuberkuloseanfälligkeit der europäischen Bevölkerung zwei Jahrtausende lang verstärkte.
Gerade weil der Autor so viele und überzeugende Beispiele für genetische Spezialadaptionen bei einzelnen Ethnien findet, mutet es merkwürdig an, dass er der genetischen Fundierung sogenannter „Rassen“ eine klare Absage erteilt. Ein genetischer Nachweis von Rassen sei weder möglich noch sinnvoll, weil 85 % der genetisch feststellbaren Unterschiede auf die phänotypische Varianz innerhalb einer menschlicher Ethnie zurückgehen. Nur 15 % der genetischen Varianz seien durch Unterschiede zwischen Ethnien erklärbar. Donnerwetter, wundert sich der Leser. So wenig ist das auch nicht.
Am Ende fragt der Autor nach der Zukunft der Evolution. Könnte es sein, dass in der Gegenwart, in der die meisten Existenzrisiken des Menschen beherrschbar sind, sich die Evolution verlangsamt oder ganz zum Stillstand kommt? Diese Frage wird verneint, wenngleich Quintana-Murci darauf hinweist, dass die kulturelle Evolution einige beunruhigende Begleiterscheinungen hervorgebracht hat. In den letzten 40 Jahren hat sich die durchschnittliche Anzahl der Spermien innerhalb einer Maßeinheit in den westlichen Gesellschaften mehr als halbiert. Mittlerweile ist jedes achte Paar im fortpflanzungsfähig Alter unfruchtbar. Übertragen auf den Denkrahmen des vorliegenden Buches würde dies bedeuten, dass die genetische Variabilität des Genpool und damit seine Adaptionfähigkeit abnimmt.
Wie aber steht es um die von Populationsgenetikern immer wieder beklagte Abnahme der Durchschnittsintelligenz in der modernen Gesellschaft? Dass der Autor darüber kein Wort verliert, hat einen ganz einfachen konzeptionellen Grund. Denn Intelligenz ist in Quintana-Murcis Denkrahmen nichts Individuelles, sondern nichts weiter als die Adaptionsfähigkeit eines gut durchmischen Genpools. Wohin die Reise geht, ist eigentlich egal. Hauptsache der Genpool als ein gigantischer sich immer weiter diversifizierender kollektiver planetarischer Zellklumpen bleibt anpassungsfähig. Diese letzte zugegebenermaßen etwas überspitzte Formulierung zeigt die Begrenztheit der rein gengeschichtlichen Perspektive im Hinblick auf das Telos der menschlichen Evolution. Ethische und religionsphilosophische Aspekte spielen keine Rolle. Positiv finalisierte Zielvorstellungen für die menschlichen Evolution, wie sie etwa Teilhard de Chardin als „Punkt Omega“ oder Yuval Noah Hariri als „homo deus“ beschrieben hat, geraten überhaupt nicht in den Fokus. Für den Fachwissenschaftler mag diese Begrenzung sinnvoll sein, mancher Leser wird sie als unvollständig empfinden.