Nassehi: Mit dem Taxi durch die Gesellschaft

NassehiArmin Nassehi ist ein deutscher Soziologe, der in dem vorliegenden Buch mit Flugzeugen, Bahnen und Taxen zu Tagungen fährt, um seinen Zuhörern die Komplexität der Welt zu erklären. Relativ souverän gegenüber linken Denkverboten vermeidet er konsequent inhaltliche Festlegungen und lehnt es ab, sich am ‚europäischen Defaitismus‘ zu beteiligen. Stattdessen beschwört er eine ‚anarchistische Liberalität der Gesellschaft‘, in der dem Individuum nichts anderes übrig bleibe, als die Kontexte seiner unterschiedlichsten Lebenswelten und Rollen immer neu zueinander in Beziehung zu- setzen. Auf dieser Grundlage formuliert Nassehi eine Reihe knackiger Basiseinsichten über die Struktur postmoderner Gesellschaft, die zwar niemanden, der Luhmann kennt, überraschen werden, die aber für den soziologischen Novizen ganz interessant sein mögen.

In einer gerafften Zusammenfassung hört sich das dann so an: Gesellschaften finden immer nur in der Gegenwart als ein unablässiger Fluss von Einzelaktionen statt. ‚Erinnern‘ Gedenken, Feiern sind Akte der Gegenwartsgestaltung, in denen politisch gewünschte Kontexte betont und andere heruntergespielt werden. (Das ‚Jubiläum‘ von 1945 lässt grüßen) Gesellschaftliche Entscheidungsmodi sind letztlich magisch ( Demokratie, Losen, Gremien, Charisma), d. h. sie dienen dazu, Entscheidungen pseudozulegitimieren, ohne das das Nichtwissen eliminiert wird. Gesamtgesellschaftliche Veränderungen werden durch Gremienaktivitäten eingeleitet und vorgespielt, wodurch kollektive Plausibilitätsangebote entstehen, die den Menschen als Quasiwahrheiten erscheinen. Bei diesen gesamtgesellschaftlichen Plausbilitätsangeboten handelt es sich um aktive Eingriffe in kollektive Wahrnehmungsprozesse, die von den Medien gleichsinnig verstärkt werden. Kein Wunder, dass für Nassehi starke Überzeugungen und das Beharren auf Tatsachen eher Störgrößen sind ‚ es kommt eben alles auf die individuell kreative Kontextualsierung an. Im täglichen Leben dominiert die ‚zivilisierte Fremdheit als Umgangsmedium urbaner Gesellschaften‘, d. h. die Menschen agieren in der Öffentlichkeit auf einem zivilisatorischen Standard, in dem das Fremde seine Bedrohlichkeit verliert und man sich mitten unter Fremden so richtig schön heimisch fühlen kann (‚Können Sie mal auf meine Tasche aufpassen?‘) Spätestens hier merkt man, dass Nassehi wohl doch mehr im Zug als mit der U-Bahn reist.

KRITIK: Nassehis Beschreibung der anarchistisch-liberalen – kontextualisierungsbedürftigen – Gesellschaft gleicht dem Befund, dass es regnet, ohne dass man einen Schirm besitzt. Die beständige Vergewisserung beliebiger Plausibilitäten und Kontexte durch atomisierte Individuen ist kein Ersatz für inhaltliche Entscheidungen, die unter den Bedingungen einer Mündigkeit getroffen werden müssen, für die in diesem Denkansatz gar keine Platz mehr exisitiert. Menschen, die in der Kommunikation mit anderen auf Mündigkeit bestehen, werden schnell zu Plausibilitätsvereinsamten, deren Thesen ausgegrenzt werden. Denn die gesamtgesellschaftlichen Plausibilitätsangebote entstehen ja eben nicht auf freien Meinungsmärkten sondern nach kollektiven Vorgaben unter den Bedingungen eingeschränkter Diskurspartizipation. Diese Plausibilitätsproduktion wird vom herrschenden politisch-medialen Mainstream unter der der Drohung existenzvernichtender Menschenhatz so streng kontrolliert, dass Abweichungen von diesen Vorgaben von den Akteuren peinlich vermieden werde. Es gehört allerdings zu den Vorzügen des vorliegenden Buches, dass diese Einwände gegen die Systemtheorie jedem von selbst aufgehen, der die Darlegungen unvernagelt durchdenkt.Nassehi

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