Auf Reisen begegnen einem nicht nur Menschen, Tiere und Landschaften, sondern auch Bücher. Das erste Mal erlebte ich das im Norden Sumatras, wo ich im Bücherfundus einer Backpackerherberge Julian Barnes „Kleine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“ fand. Dieses Buch versüßte mir den Aufenthalt am Tobasee und steht bis heute in meiner Bibliothek. Ein andermal traf ich in einem verregneten Frühjahr in Südchina einen Reisenden, der mir Robert S. Elegangts Roman „Mandschu“ schenkte. Mit diesem handwerklich hervorragend geschriebenen Saft- und Kraftschinken kann ich wunderbar durch den chinesischen Dauerregen.
Nun begegnete mir in der Nähe des Vänersees in Mittelschweden Mikael Niemis Roman „Popularmusik aus Vittula“, einem Buch, das mir gänzlich unbekannt war, das aber in Schweden fast jeder kennt weil es der erstaunlichste Debütroman der letzten Jahre ist. Glücklicherweise gelang es mir, dieses Buch gegen Günter Grass „Ein weites Feld“ einzutauschen. Ein hervorragendes Geschäft, wie ich finde, Danke, Loretta.
Der Roman „Populärmusik aus Vittula“ beschreibt die Lebenswelt von Pägalar, einem weltabgewandten Ort hoch oben an der schwedisch finnischen Grenze. Mit den Augen des kleinen Matti erlebt der Leser das Heranwachsen eines Kindes zwischen eisigen Wintern, mückenheißen Sommern, besoffenen Saunagängen, Ratten, Rentieren und uralten Feindschaften und Sehnsüchten. Drei Vorzüge machen die Lektüre des Buches zu einem Lesevergnügen: Erstens die sehr treffende, leicht ironische Sprache voller lebendiger Metaphern („Seine Finger huschten über den Gitarrenhals wie eine südamerikanische Vogelspinne“), zweitens die Erzählperspektive des kleinen Matti, die es dem Autor ermöglicht, die wunderlche Welt des Nordens mit den Augen eines Kindes noch einmal auf das Reizvollste zu verfremden. – und drittens eine starke Brise Humor, mit der der Autor den Leser von der ersten bis zur letzten Seite unterhält. Mit diesen drei Mitteln gelingen Mikael Niemi unvergessliche Miniaturen, etwa die Familienstreit beim Tod der Großmutter oder Mattis Kampf gegen die Ratten. Laut lachen musste ich beim Wettkampf der Saunagänger oder der Kampftrinker. Schon weniger lustig, aber umso einprägsamer ist die Passage, in der die Emanzipation der Söhne von einem verkommenen Vater beschrieben wird der seine Familie bis aufs Blut quälte. Auch die Geschichte vom Schulmobbing ist nicht unbedingt lustig aber in umso schmerzhafterer Weise wahr. Eine besondere Rolle spielt, wie der Titel bereits andeutet, die Popmusik, die in den 1960er Jahren in Gestalt einer Beatles-Singe in das Dorf kam. Diese Musik wirkte wie ein Weckruf, wie das Symbol der Befreiung aus der engen Welt des Nordens, der der Autor trotzdem im vorliegenden Buch ein bewegendes literarisches Denkmal gesetzt hat.