Polmann: Die Mitleidsindustrie

Polmann MitleidsindustrieEmile Durkheim, einer der Gründerväter der modernen Soziologie, hat als einen der wesentlichen Forschungsschwerpunkte seiner Disziplin die Erkundung der nicht beabsichtigten Folgen sozialer Handlungen bezeichnet. Das hört sich etwas dröge an, ist aber ungemein erhellend. Man denke nur an die Verblüffung, die die Gutmenschen aller Länder ergriff, als ihre Biosprit-Politik in der Dritten Welt wegen der Verringerung der Anbauflächen zu Nahrungsmittelknappheit und Hungersnöten führte. Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit einem nicht weniger krassen Problem: den wenig erfreulichen Folgen der sogenannten „Mitleidsindustrie“ für die notleidenden Menschen in den Krisenzonen des Planeten und für die internationale Politik.

Unter dem etwas pejorativen Begriff „Mitleidsindustrie“ versteht Polmann die Gesamtheit  internationaler Hilfsorganisationen, die sich entweder per Amt oder freiwillig um die Notleidenden der Welt kümmern. Landläufig werden darunter die Organisationen der UN, das Rote Kreuz, religiöse Hilfsorganisationen und  karitative NGO (Nicht-Regierungs-Organisationen) bezeichnet. Um gleich mit der Wahrheit herauszurücken: von keiner dieser Gruppierungen hält die Autorin besonders viel, aber die karitativen NGOs hat sie gefressen. Sie nennt sie „Mongos“,    („My own NGO“), weil es so viele von ihnen gibt. Hoppla, fragt man sich: haben denn die „Mongos“ das verdient? Ist denn ihr freiwilliges Engagement nicht aller Ehren wert und werden ihre Aktivisten nicht mit Recht von unseren Massenmedien als die Helden der Jetztzeit gerühmt? Nein, antwortet die Autorin, die Mongos  richten viel mehr Schaden an als sie nützen, so dass es das Beste wäre, sie würden entweder einfach verschwinden. Was übrigens auch für die UN-Institutionen und die religiösen Hilfsorganisationen gilt, die oft nur Missionsorganisationen sind. Auf dem Hintergrund breit entfalteter und persönlicher Erfahrungen mit Hilfsorganisationen aus aller Welt fasst die Autorin  ihre Kritik wie folgt zusammen:

  • Westliche Hilfsaktionen wie die Einrichtung und Versorgung von Flüchtlingslagern verlängern die Kriege. Sie erlauben es, geschlagenen Kriegsparteien sich im Schutz der Lager zu revitalisieren. Seit ihrem Bestehen schöpft der palästinensische Terrorismus  einen Großteil seiner Kraft aus den palästinensischen Flüchtlingslagern. Ebenso verhielt es sich mit den Flüchtlingslagern der Hutus an der kongolesischen Grenze, die es den Hutus ermöglichten, ihren Genozid an den Tutsi aus im Kongo fortzusetzen. Das gleiche gilt auch für die Flüchtlingslager der Polisario oder der Widerstandskämpfer im Sudan.
  • Nahrungsmittelhilfe oder technischer Support werden von örtlichen Machthabern gnadenlos Die Helfer müssen Gelder bezahlen, damit sie den helfen dürfen, ganz zu schweigen davon, dass ein Großteil der Unterstützung in die Taschen der Machthaber fließt. Fazit: Die Mitleidsindustrie stärkt genau die korrupten Regimes, die für das Elend der Menschen verantwortlich sind.
  • Unter dem Vorwand katastrophaler Hungersnöte werden NGOs dazu missbraucht, Deportationsprogramme durchzuführen. Die Kanalisierung der Hilfe durch die Machthaber kann in beide Richtungen wirken „Wenn lokale Machthaber Hilfsorganisationen gestatteten, irgendwo Nahrungsmittelhilfe zu verteilen, geschah dies, weil die Bevölkerung dazu verführt werden sollte, in dem Gebiet zu bleiben. Aus Gegenden, in denen Nahrungsmittelhilfe verboten war, sollten die Menschen verschwinden.” Geradezu bizarr wirkt das äthiopische Beispiel, wo die Mengistu-Diktatur eine sogenannte Hungersnot dazu nutzte, widerständige Ethnien unter dem Vorwand der Umsiedlung zu vertreiben – und das mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft.  Mitunter werden Nahrungsmittelengpässe sogar zu Hungersnöten aufgepeppt, um Hilfsorganisationen anzulocken. Journalisten werden eingeladen, um ihnen Katastrophenszenarien vorzuspielen, die man zum Teil selbst inszeniert hat.
  • Schließlich führt die Instrumentierung der NGOs dazu, dass die internationale Hilfe nicht dorthin fließt, wo sie am nötigsten gebraucht würde, sondern dorthin, wo die Publicity am effektivsten funktioniert. „Im Jahr 2004 ging nicht einmal ein Viertel der offiziellen Entwicklungshilfe (ODA) an die ärmsten Länder“, schreibt Polmann. „Das meiste Geld ging an die Frontstaaten des War on Terror. Andere Gewinner des Jahres waren die Tsunamiopfer mit durchschnittlich 1 200 Dollar pro Einwohner der betroffenen Gebiete. Die Verlierer waren Kongo (geschätzte Zahl der Toten seit den neunziger Jahren: drei Millionen) mit 10 Hilfsdollar pro Kopf der Bevölkerung und Hungeropfer in Namibia: nichts.”
  • Selbst wenn Potentaten die internationale Hilfe nicht instrumentalisieren, führt ihre Massierung zu Gewöhnungs- und Abhängigkeitseffekten. Unter Fachleuten wird das als die „holländische Krankheit“ bezeichnet. Darunter  versteht man Fehlentwicklungen in Regionen, in denen die NGOs und die UNO die einzigen relevanten Arbeitgeber sind. „Manchmal stürzen sich Hunderte lokale Bewerber auf eine offene Stelle. Die Helfer stellen Bewacher, Chauffeure, Dolmetscher, Gärtner, Houseboys, Techniker, Leute mit Büro- und Sprachkenntnissen und Fachleute ein.“ Diese Kräfte fehlen im normalen Wirtschaftskreislauf. Eine extreme Abart dieses Phänomens wird als „NGO-ismus“ bezeichnet. „Davon ist die Rede, wenn Hilfe die wichtigste ökonomische Kraft in einem Land ist. Der Terminus wurde in Afghanistan erfunden, wo 2 355 NGOs registriert waren, 333 von ihnen agierten international (2004), und praktisch null waren normale Betriebe oder Inverstoren”, erklärt die Autorin

Liest man die unzähligen Beispiele, die die Autorin aus ihrem Erfahrungsfundus zusammenträgt, ist man geneigt zu fragen, warum die Mitleidsindustrie trotz ihrer Ineffektivität noch immer als weitweites Milliardengeschäft blüht. Es muss doch jemanden geben, der außer den Gewaltherrschern aus diesen Strukturen Vorteile zieht. Ja, antworte die Autorin, diese Vorteilsnehmer gibt es. Es sind die gut bezahlten Mitarbeit und Fundraiser der UN-Institutionen und der Mungos, die sich nicht moralischen Erhabenheit an den Hut stecken können sondern auch noch gute Gehälter einstreichen.  „Die humanitäre Hilfsgemeinschaft hat keinerlei Hemmungen, sich in Kriegs- und Krisenländern als internationaler Jetset im Urlaub zu präsentieren. Ihre Land Cruisers parken in den zerschossenen Städten jeden Abend in Doppelreihen vor den Restaurants, Kneipen und Diskos. Wo sie hinkommen, blüht umgehend die Prostitution auf. Auf den Barhockern in humanitären Räumen sitzen oft blendend bezahlte Diplomlandwirte, Fachleute für Milleniumsziele oder Genderexperten mit heimischen Teenager-Mädchen auf dem Schoß. Ich habe humanitäre Helfer kennengelernt, die sich tagsüber der Kindersoldaten und Kriegswaisen annahmen und abends in den Armen von Kinderprostituierten verschnauften.“  Oxfam lässt grüßen. Das sind bittere Worte, die man selten hört, auch wenn sie durch die meisten Kenner der Szene bestätigt werden. Peter Scholl-Latour, der auf seinen Reisen immer wieder dem „Wanderzirkus der NGOs“ begegnete,  hat ihre Aktivitäten mit beißendem Spott karikiert.

Was aber ist die Alternative, fragt die Autorin am Ende ihres Buches. Jeder Kritiker der Mitleidsindustrie aus NGOs, religiösen Erweckungsbewegungen und UNO-Institutionen steht vor dem Dilemma, dass ein Einstellen der Hilfe wahrscheinlich gesamtgesellschaftlich  von Vorteil wäre, aber ganz konkret die Rettung einzelner Menschenleben verhindern würde. Eine Antwort auf dieses Dilemma hat auch die Autorin nicht, was aber ihrer Ansicht nach nicht bedeutet, dass man sich über die desaströsen Effekte mitleidsindustrieller Abläufe nicht klarer werden und ihre Wirksamkeit genauer überprüfen sollte.

Übrigens hat die Problematik, die die  Autorin in dem vorliegenden Buch beschreibt, in der Zwischenzeit sogar noch an Aktualität gewonnen, seitdem sich selbsternannte linke NGOs im Mittelmeer in Kooperation mit libyschen Menschenschleusern als Schlepper nach Europa betätigen. Niemand wird jemals feststellen, wie viele Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, weil sie durch die NGOs aufs offene Meer herausgelockt wurden, ohne dass diese in der Lage gewesen wären, die Flüchtlingsboote auch vollständig zu bergen.

 

 

 

 

 

 

 

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