Annie Proulx, die Autorin von „Mitten in Amerika“ entführt ihre Leser in dem vorliegenden Buch in eine der Urlandschaften Nordamerikas: nach Wyoming, in jene karge und kalte, großartige und abschreckende Region, zwischen Arizona, Utah und Montana, die den Menschen, die sie bewohnen, ihren unauslöschlichen Stempel aufdrückt. „Kein Gemetzel von einst, keine Grausamkeit, kein Unfall, kein Mord, wie er auf den kleinen Ranches passiert, hält das Morgenlicht auf,“ heißt es in der Geschichte „In der Hölle will man nur ein Glas Wasser“ über dieses Land. „Die Zäune, Rinder, Straßen, Raffinerien, Bergwerke (…) sind vergänglich. Nur die Erde zählt und der Himmel. Nur das immer wiederkehrende Anfluten des Morgenlichts.“ (S. 107f.) Was sind das für Menschen, die dieses so schrecklich gleichgültige Land bewohnen? Es sind Menschen wie Wade Wallis, der alles Unglück in den Rindern des Westens erkennt und die Zäune der Farmen durchschneidet und Fersengeld gibt, als einer seiner Helfer von den Cowboys erschossen wird. Es sind Menschen wie Car Scrope, der Inhaber der „Coffeepot Ranch“, der seine Frau nicht vergessen kann. Denn sie „hatte die sanfte Hitze des Morgens mit sich genommen, den leisen Schrei ihrer das Laken hinaufgleitenden Fersen, die Schenkel, die sich für ihn spreizten wie die Seiten eines Buches.“ Nun „konnte er die Einsamkeit nicht mehr ertragen, aber die Ranch ließ ihn nicht los, und es gab keinen Ausweg.“( S. 217) Es sind Frauen wie Josanne, Palma und Ruth, drei wilde Weiber aus Wyoming. Sie „tranken, rauchten, alberten lauthals mit Freunden herum, und wenn sie tanzten, dann war es vor allem ein sich Anschmiegen und Sich Reiben an dem Männerschenkel zwischen ihren Beinen. Einmal zog Palma die Bluse aus und zeigte ihre Brüste, Josanna knallte einem Betrunkenen eine, der etwas Falsches gesagt hatte und bekam eine zurück, spie Gift und Galle mit geplatzter Lippe, drosch und trat auf den Cowboy ein, angefeuert von fünf oder sechs seiner begeisterten Freunde.“ (227). Aber noch ehe sie endgültig in den „Steppenbränden ihres Herzens“ erlagen, ehe sie vollständig sedierten oder an Alkoholvergiftung starben, wurden sie bei einem Verkehrsmassaker auf den Straßen Wyomings erschossen.
Jack und Ennig, zwei Viehtreiber verlieben sich im Schatten des Brokeback Mountains ineinander, treiben es in der Einsamkeit der Berge, hitzig, verwirrt und stumm. „Nur einmal sagte Ennis: Ich bin nicht schwul, und darauf Jack: Ich auch nicht.“ (S. 315). Eine lebenslange Leidenschaft beginnt, die weder Raum noch Erfüllung findet sondern nur ein Ende in Einsamkeit und Tod. Ein tief beeindruckender kongenialer Film ist auf der Grundlage dieser kleinen Wyoming Miniatur entstanden, auch ein Beweis für die Dichte dieser Geschichten, auf deren Grundlage sich cineastische Welterfolge entwickeln lassen.
Das sind nur vier Beispiele für die Stimmung der elf Geschichten des vorliegenden Bandes, die fast alle kleinen Miniromanen gleichen – mit plastisch heraus gearbeiteten Charakteren, tragischen Wechselfällen und dem Grundton einer Desperation, die die Geschichten von Anfang bis Ende durchwest. Jede Erzählung ist anders, aber die Sprache in der sie erzählt werden, evoziert immer aufs Neue die Stimmung eines Landes am Rande der Zeit und am Rande des Wahnsinns und die tragische Psychologie seiner Bewohner, die nicht weg wollen und doch an der Einsamkeit ihrer Lebensumstände zugrunde gehen. Wenn es überhaupt einen Spiegel der amerikanischen Melancholie im Medium der Literatur gibt, dann sind es diese außergewöhnlichen Wyoming Stories, in denen Annie Proulx dem unbekannten Staat in der bergigen Wetterecke Nordamerikas ein unsterbliches Denkmal setzte.