Die Familie Mann war innerhalb der deutschsprachigen Literatur in etwa das, was man im amerikanischen eine „First Family“ nennen würde. Aber es war eine First Family auf der kein Segen lag. Der Vater und seine drei Söhne waren homosexuell, was ganz und gar nichts Schlimmes ist, hätten sie nicht in einer Zeit gelebt, in der sie gezwungen gewesen waren, ihre Neigungen unter großem seelischem Aufwand zu verbergen. Zwei der Söhne endeten durch Selbstmord. Dabei waren bei allen Angehörigen der Familie Mann enorme Begabungen im Spiel, nicht nur beim „Zauberer, dem Familienoberhaupt, sondern auch bei den Kindern – immer aber gehandicapt mit ähnlich stark ausgeprägten seelischen Belastungen
Marcel Reich-Ranicki hat es auf sich genommen, auf dem Hintergrund profunder Werkkenntnis und insbesondere der Tagebücher des Meisters die Geschichte von „Thomas Mann und den Seinen“ aufzuarbeiten. Das Buch liest sie wie Butter, leicht und flüssig ohne flach zu sein und braucht sich hinter der monumentalen Thomas Mann Biografie von Peter Mendelsohn nicht zu verstecken.
Die erste Hälfte des Buches beschäftigt sich mit Thomas Mann und portraitiert den „Dichterfürsten“ als ein epochales literarisches Genie, als einen Asket der Selbstdisziplin und einen Universalgebildeten – der aber alles andere war als ein liebenswerter Mensch war. Nach außen hin gab er sich kühl und distanziert und war beständig mit der öffentlichen Modellierung seines Bildes beschäftigt. Wie aber war er wirklich? fragt Marcel Reich-Ranicki und antwortet: „Es gab einen Freiraum zu dem niemand zugelassen war und den er auch in Zeiten größter Inanspruchnahme energisch verteidigte: eben das Tagebuch. Es war ein Monolog ohne Zuhörer, es war der Schlupfwinkel, in dem er ohne Zeugen sein konnte. Es war sein Asyl und sein Rettungsring. Nur im Tagebuch leistete er sich den Verzicht auf Schminke und Maske, auf die Selbststilisierung, also auf die Rolle, die er spielen wollte und die er längst zu spielen gewohnt war.“ Im Unterschied zu seinen normalen Romanen, in denen immer das „augurenhafte Lächeln des Zauberers“ durchscheint, der zugleich auf die Zustimmung der Leser hofft, ist diese Attitüde den Tagebüchern fremd. In ihnen geht es nur um eines: um Thomas Mann als Person rauf und runter, von hinten und von vorne und sogar bis unter die Gürtellinie. Neben dem sorgfältigen Notat tausender Nebensächlichkeiten („habe in der Weste gefrühstückt“) enthüllen die Eintragungen eine schreiend neurotische, depressive Persönlichkeit, die ständig um ihr Gleichgewicht kämpfte. Ein größerer Gegensatz zwischen dem würdigen Auftritt nach außen und der Jämmerlichkeit der privaten Befindlichkeit ist kaum vorstellbar. Sein Grundproblem, so Marcel Reich-Ranicki, war die nicht ausgelebte homosexuelle Veranlagung, die unstillbare Sehnsucht nach hübsche Kellnerexistenzen, die ihn quälte, ohne dass er sie faktisch jemals befriedigt hast. An seiner ungestillten Lust hat er bis zuletzt gelitten. »Das hält aus bis zum letzten Seufzer«, notierte Mann, „auch wenn der Speer ein wenig stumpfer geworden sei.“
Bei einer Befangenheit in sich selbst ist es kein Wunder, dass der Meister für andere Größen keinen Blick hatte. Große Autoren, so Marcel Reich-Ranicki, sind immer Säulenheilige. Und wenn sie schon einmal über andere urteilen, kommt es oft zu krassen Fehleinschätzungen – wie etwa bei Thomas Mann, der 1945 schrieb, es könne einer mit »Menschen- und Engelszungen« reden und würde ihm dennoch Jünger nicht geheuer machen. Er hielt ihn für einen »Wegbereiter des Nazitums«, der »ein eiskalter Genießer des Barbarismus geblieben« sei.“ Man sieht, auch die ganz Großen können mitunter ganz großen Schwachsinn äußern.
Mit den deutschen ist Thomas Mann nach seiner Emigration erst behutsam, dann immer härter ins Gericht gegangen. Wenn man so will, ist er einer der geistigen Väter der Theorie vom „deutschen Sonderweg“, allerdings in einer Modifikation, die heute fast vergessen ist: das Schreckliche am Deutschtum, so Mann, ist die Umkehrung des Grandiosen an ihm. Daran ist, von heute aus betrachtet, durchaus etwas Wahres. Kein Wunder, dass Thomas Mann nach 1945 als Kritiker der Deutschen zunächst in einer Weise umstritten ist, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Die CDU bleibt bei Ehrungen fern, prominente Autoren sagen ab, wenn es um Thomas Mann geht. Das alte, nationale Deutschland, das mit dem Nationalsozialismus nichts am Hut hatte („Wie?“ fragt der Halbgebildete unserer Tage „gab es das überhaupt?“), ist verbittet darüber, dass es von Thomas Mann mit dem Pöbel in einen Topf geworfen wurde. Die Thomas Mann Vergötterung ist ein Produkt des Kulturwandels der späten BRD.
Die zweite Hälfte des Buches beschäftigt sich, wie der Titel bereits andeutet, mit der Familie Mann, zuerst ausführlich mit dem Bruder Heinrich, der als eine verzerrte, verkümmerte Kopie des Meisters erscheint, ohne Geschmack, fahrig, ohne Selbstkritik und haltlos. „Seine Bücher sind schlecht, aber sie sind es in so außerordentlicher Weise, daß sie zu leidenschaftlichem Widerstande herausfordern. Ich rede nicht von der langweiligen Schamlosigkeit seiner Erotik, von der geistlosen und unseelischen Betastungssucht seiner Sinnlichkeit. Was mich empört, ist die ästhetisierende Grabeskälte, die mir aus seinen Büchern entgegenweht …« Ob man den Autor des „Untertan“ wirklich so hart verurteilen muss, weiß ich nicht, aber keiner, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde ihn mit seinem Bruder auf eine Stufe stellen.
Erika Mann ist die militante Tochter des Meisters, die sogar ihren Vater ermahnt, die große Hasserin, die sich zu allem und jedem äußert und den Mund nicht halten konnte. Sie war eine Frau, so Marcel Reich-Ranicki, die mit sich selbst nicht in Frieden leben konnte, auch wenn viele Ihrer Urteile noch heute lesenswert sind, wie etwa das über Adorno. „»Meiner genauen Erfahrung nach ist er nicht nur pathologisch eitel“ notierte Erika Mann, „nicht nur paart sich seine Eitelkeit logischerweise mit einem hohen Grad von Verfolgungswahnsinn – er ist überdies ein Bluffer; ganz bewußt streut er den Leuten Sand in die Augen, ganz bewußt und absichtlich schreibt er häufig so unverständlich, und nur zu häufig verbirgt blanke Unwissenheit sich hinter seiner hochkonzentrierten, allumfassenden Versiertheit.«“
Auch Klaus Mann, der Autor des “Mephisto“, findet wenig Gnade vor Marcel Reich-Ranicki. „Er war zu unruhig und zu ungeduldig, um an einem Absatz oder gar an einem einzigen Satz sorgfältig zu arbeiten: Meist schrieb er die Worte hin, die er gerade zur Verfügung hatte. An anderen, besseren und genaueren, war ihm offenbar wenig gelegen: Er hatte keine Lust, sie zu suchen. Ist es verwunderlich, daß dieser Schütze, der immer nervös und hastig zielte, häufig seine Objekte verfehlte? Eher sollte man sich wundern, daß es ihm mitunter gelang, ins Schwarze zu treffen.“
Auch Katja Mann, die Gattin des Meisters, hat sich über die Mann-Familie geäußert, wenngleich vorwiegend in Gesprächen und Interviews, die später zum Buch wurden. „Was Frau Katia Mann über den Freundeskreis zu sagen hat, ist für die Betroffenen nicht immer schmeichelhaft“, zitiert Marcel Reich-Ranicki: „Hermann Hesse hatte einen »drolligen guten Menschenverstand«, Feuchtwanger war »sehr eitel, aber auf völlig entwaffnende Art«. Einstein hatte »etwas Kindliches im Wesen, so große Glupschaugen«; er war »im gewöhnlichen Leben kein sehr eindrucksvoller Mensch. Politisches Verständnis anlangend – damit war es bei ihm nicht weit her.« Alma Mahler-Werfel »trank“ „immer viel zu viel süße Liköre« und »war von Natur her ziemlich bös. Sie machte gern Klatschereien …«; indes: »Mein Mann hatte sehr viel für sie übrig.« Schönberg »war kein sonderlich gewinnender Mensch« und »bei Schönbergs ging alles ein bißchen drunter und drüber«. Gar nicht gut ist Frau Mann auf Adorno zu sprechen: »Er war doch zuweilen wie närrisch vor Anspruch und Blasiertheit.“
Nur beiläufig werden Monika Mann und Michael Mann erwähnt. Monika Mann behelligt Marcel Reich-Ranicki mit kuriosen Briefen über ihre Schwester Erika. Michael Mann erscheint Marcel Reich-Ranicki als schwer gestört und nicht ganz ernst zu nehmen. Dass er sich schließlich auch umbrachte, ging im Familientrubel fast unter.
Einzig der jüngste, Golo Mann, findet einen Weg aus dem gewaltigen Schatten des Vaters. „Als Klaus Mann 1949 seinem Leben ein Ende setzte, war Golo vierzig, als der Vater 1955 starb, immerhin schon 46 Jahre alt“, schreibt Marcel Reich-Ranicki. „Er hatte bis dahin wenig publiziert – neben Zeitschriftenaufsätzen nur die (freilich sehr beachtliche) Monographie »Friedrich von Gentz, Geschichte eines europäischen Staatsmannes« (1947). Die Bücher, die ihn über die Fachkreise hinaus bekannt gemacht und in kurzer Zeit als erfolgreichsten deutschen Historiker und originellsten Essayisten ausgewiesen haben, erschienen nun in verhältnismäßig schneller Folge: 1958 die »Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts« und 1961 der Sammelband »Geschichte und Geschichten«, 1971 die monumentale Wallenstein-Biographie und 1973 die »Zwölf Versuche«.“
Was bleibt? Fragt Marcel Reich-Ranicki. Ein Merkmal des Großen ist, dass sich nach ihm ein Sturm derer erhebt, die ihn überwinden wollen. Bleibt dieser Sturm aus, handelte es sich nicht um einen Großen. Aber wie schon die Rebellion der Romantiker nach 1832 gegen Goethe zeigte, sind dergleichen Rebellion oft nur dazu angetan, dass Fundament der Verehrung noch breiter zu gestalten. So war es auch mit Thomas Mann, der 20 Jahre nach seinem Tod aus Anlass seines 100. Geburtstags im Jahre 1975, so Marcel Reich-Ranicki zum Gegenstand einer Generaloffensive bundesdeutscher Bonsailiteraten wurde. Sie scheiterte und führte nur zu einer Intensivierung der heutigen Thomas Mann Verehrung.