Ein Politiklehrer an einer amerikanischen Highschool unternimmt einen Unterrichtsversuch, bei dem seine Schüler, ein schlapper und faulere Haufen, durch Symbole, Disziplin und Führung plötzlich um 180 Grad verwandelt und zu einer für alle Zwecke zu missbrauchenden Kampftruppe werden. Moral von der Geschicht: Die Schüler, Mitglieder einer freien Gesellschaft, haben sich selbst in kürzester Zeit zu einer jener willenlosen Massen formen lassen, mit denen die Nazis Europa in den Weltkrieg stürzten.
Inzwischen gibt es kaum einen Schüler, der während seiner Schullaufbahn diesem Plot in Gestalt des Films oder des Buches „Die Welle“ entkommt. Der vermeintliche Tatsachenbericht über „einen Schulversuch, der zu weit ging“ hat inzwischen fast den Rang eines Glaubensbekenntnisses angenommen, das da heißt: „Oh Herr, beschützte mich vor dem Nazi in mir und meiner eigenen Verführbarkeit durch Autoritäten, so dass nie mehr geschehen kann, was in der Nazi-Zeit geschah.“
In Wahrheit handelt es sich bei diesem Buch um eines der erschreckendsten Beispiele für massenmedial verbreiteten Schwachsinn. Dass Menschen manipulierbar sind, ist natürlich richtig, aber die Sozialpsychologie weiß seit langem, dass dazu zunächst und vor allem die extreme Isolierung von der normalen Lebenswirklichkeit gehört, so dann eine pausenlose emotionale und kognitive Reizüberflutung, die dem zu Manipulierenden keine Möglichkeit lässt, zu Sinnen zu kommen. Nach diesem Muster, unterstützt durch Schlafentzug und eine bestimmte Diät, funktioniert die so genannte „Gehirnwäsche“ bei Sekten oder religiösen Organisationen, ein Unternehmen, das aber immer wieder in Gefahr gerät, wenn die gerade erst Manipulierten wieder in Kontakt mit der Wirklichkeit geraten.
Vergleicht man dieses vielfach erforschte und wissenschaftlich anerkannte sozialpsychologische Design von Manipulation und Gehirnwäsche mit dem so genannten Schulversuch an der fraglichen Highschool wird sofort klar, dass die vom Autor behauptete Manipulierung einer Schülergruppe so nie und nimmer stattgefunden haben kann. Eine so weitgehende Mentalitätsveränderung, wie sie in dem Buch behauptet wird, kann nicht durch einen Lehrer verursacht werden, der seine Schüler gerade mal zwei, maximal drei Stunden pro Woche sieht. Und selbst wenn er es versuchen sollte, hätte er gegen die mentalitätsbildende Kraft, die von Mitschülern anderer Kurse, Freunde, Geschwistern, Eltern, den Massenmedien und den Freizeitveranstaltungen, also von 99 % der Schülerwirklichkeit ausgeht, keine Chance. Jeder, der diese Zeilen liest und zweifelt, stelle sich nur einmal für eine Sekunde vor, wie lächerlich es ihm vorgekommen würde, wenn sein Politik- oder Geschichtslehrer in der Stunde plötzlich die Faust geballt und „Kraft durch Disziplin“ gefordert hätte.
Handelt es sich also bei dem Plot der „Welle“ um absoluten Nonsens, ist der weltweite Erfolg dieses Machwerkes doch auch wieder erschütternd und lehrreich zugleich. Denn wenn sich die Lobpreiser dieses Werkes, das landauf landab an den Schulen gezeigt wird, sind selbst Verführer und Verdummer. Mit dem erfolgreich propagierten Glauben an die Richtigkeit der in der „Welle“ vermittelten Botschaft liefern sie selbst den besten Beweis für die Verführbarkeit der Menschen. Aber es ist dann wie immer in der Geschichte eine Verführbarkeit und Verdummung durch die, die uns vermeintlich vor der Verführbarkeit und der Verdummung schützen wollen. Dem unbedingt notwendigen Ziel einer Erziehung gegen rechts- und linksradikale Intoleranz leistet „Die Welle“ in ihrer gedanklichen Dürftigkeit deswegen leider einen Bärendienst.