In der Reihe „Kindlers Klassische Bildbiographien“ beschäftigt sich Gerd Ruge mit Boris Pasternak (1890-1960), einer großen, fast vergessenen Figur der russischen Literatur. Pasternak stand seiner ganzen Ausbildung und Herkunft nach für jenen Zweig der russischen Geisteselite, die den engen Anschluss an Europa suchte, ohne deswegen Russlands Eigenart aufzugeben. Seine Tragik war, dass er in einer Zeit lebte, in der die „asiatische Despotie“ (Wittvogel) über Russland kam.
Dabei hatte Pasternaks Leben wie unter einem Glücksstern begonnen. Wenn es jemals einen Künstler gegeben hat, der in einer kunstaffinen sozialen Umgebung aufwuchs, dann Boris Pasternak in seinem kultivierten jüdischen Elternhaus in Moskau. Seine Mutter Rosa war eine gefeierte Pianistin, sein Vater Leonid ein landesweit berühmter Maler. Im wohlhabenden Haushalt der Pasternaks in Moskau verkehrten der alte Tolstoi, Rubinstein, Skrajabin, Rachmaninow und andere Geistesgrößen der russischen Kulturszene. Im Unterschied zu seinen Freunden Jessenin und Majakowski zog es den begabten Boris zu Musik und Lyrik. Er sympathisierte zwar mit der antizaristischen Opposition, weigerte sich aber sich zu ihrem „Lautsprecher“ (Majakowski) zu machen. „Revolutionen werden von aktiven, einseitigen Fanatikern gemacht, von Genies der Selbstbeschränkung“, heißt es an einer Stelle in „Doktor Schiwago“. So geriet der junge Pasternak nach der kommunistischen Machtergreifung schon in den 1920er Jahren in die Kritik der Parteiorthodoxie, die ihn als „bürgerlich“ und „dekadent“ abqualifizierte. Den stalinistischen „Säuberungen“ in den 1930er Jahren entging er nach Ruge nur, weil dem Diktator Pasternaks Übersetzungen georgischer Dichtungen ins Russische gefielen (Tut diese Erklärung Stalins literarischem Geschmack nicht zu viel Ehre an?). Im „Großen Vaterländischen Krieg“, in dem die Partei dem Patriotismus ein wenig mehr Raum gewährte, durften Pasternaks Werke wieder gedruckt werden. Dann verhärtete sich das System wieder, seine Gedichte und Prosaarbeiten landeten auf dem Index, und er war gezwungen, sich seinen Lebensunterhalt durch Übersetzungen von Shakespeare und Goethe zu verdienen, Was für ein bizarres Detail der Geistesgeschichte, dass der große Pasternak im Rahmen eines Lohnauftrages Brechts Dankensrede für die Verleihung des Stalinpreises (!) ins Russische übersetzte.
Im Jahre 1946 begann Pasternak mit der Arbeit an seinem Roman „Doktor Schiwago“, den er nach zehnjähriger Arbeit 1956 fertigstellte. Obwohl sich die Sowjetunion nach dem Tod Stalins in einem sogenannten „Tauwetter“ (Ehrenburg) befand, durfte der Roman wegen seiner kommunismuskritischen Tendenzen nicht erscheinen. Auf verschlungenen Wegen gelangte das Manuskript kurz darauf in die Hände des kommunistischen Verlegers Giangiacomo Feltrinelli, der das Buch 1957 gegen Pasternaks Willen in Mailand auf Italienisch herausbrachte. Der Roman schlug im Westen ein wie eine Bombe, dutzende Übersetzungen in allen Kultursprachen erschienen und brachten dem Autor im nächsten Jahr den Literaturnobelpreis ein. Wie nicht anders zu erwarten, begann in der Sowjetunion sofort ein öffentliches Kesseltreiben gegen Pasternak, bei dem sich der Plagiator Scholochow in übelster Weise hervortat. Kennzeichnend auch, dass die wütendsten Attacken gegen Pasternak vom kommunistischen Jugendverband kamen. Immerhin musste der Dichter in der nachstalinistischen Ära nicht mehr um sein Leben fürchten, aber Parteichef Chruschtschow war so erbost, dass er Pasternak nach Baku schicken wollte, damit er ein episches Werk über die Verbesserung der Lebensumstände der Ölarbeiter schrieb. (was ihm wegen seines schlechten Gesundheitszustandes erspart blieb) Schließlich wurde der Druck auf Pasternak so stark, dass er unter dem Damoklesschwert der Ausweisung aus Russland auf den Nobelpreis verzichtete und öffentlich Selbstkritik übt. Kurz darauf starb Pasternak am 30. Mai 1960 an einem Herzinfarkt.
Damit endet das Buch etwas abrupt, als sei Ruge der Griffel aus der Hand gefallen Hintergrundinformationen über Olga Iwinskaja, dem Vorbild der Lara in „Doktor Schiwago“, sucht man vergeblich. Auch Michail Scholochow erscheint in Ruges Buch noch immer als der Autor des Romans „Der stille Don“. Schade auch, dass das Buch keine Beispiele für die Lyrik Pasternaks enthält, die seinen Ruhm begründete. Dafür sind einige Pasternak-Sentenzen ganz treffend ausgewählt, wie etwa die folgenden
- Ein paarmal in seinem Leben verspürt der Mensch die Gegenwart des Göttlichen, in der Liebe zur Kunst, in der Liebe zu einer Frau, in der Liebe zu seinem Land.
- So wie man eine schöne Frau nie bitten soll, eine andere schöne Frau zu beurteilen, darf man auch die großen Dichter nicht vergleichen.
- Philosophie ist immer Beigabe, Überhöhung, Einordnung und Fazit. „Nur“ zu philosophieren bedeutet das gleiche, als würde man immer nur Rettich essen.
Alles in allem handelt es sich bei dem vorliegenden Buch um einen gut gemachten biografischen „Appetizer“, der zur weiteren Beschäftigung mit Pasternak animieren soll. Bei mir hat es geklappt, denn ich habe mir nach der Lektüre der Biografie den Roman „Doktor Schiwago“ noch einmal vorgenommen.