Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts

Der vorliegende und allgemein hoch gelobte Roman erzählt die Geschichte einer kommunistisch geprägten Familie vor dem Hintergrund der DDR-Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. Wenn man dem Klappentext glauben darf, handelt es sich um nicht weniger als eine  Art DDR-Buddenbrock Roman, in dem über ein halbes Jahrhundert hinweg (1951-2001) Familiäres und Zeitgeschichtliches „überragend“ (FAZ) und literarisch überzeugend verbunden wird. Der deutsche Buchpreis 2011 war die logische Folge dieser überschwänglichen Rezeption – auch die meisten amazon-Rezensenten überschlagen sich förmlich vor Begeisterung.

Ich kann diesem Urteil nur mit Einschränkungen zustimmen. Sicher, das Thema ist interessant, und die Abläufe des Buches werden im Detail anschaulich und einprägsam erzählt. Allerdings hat sich der Autor mit der formalen Konzeption seines Werkes selbst unnötig ein Bein gestellt. Denn Eugen Ruge präsentiert sein Buch als eine wahre literarische Zentrifuge, als ein Paket von zwanzig zeitversetzen Kapiteln, wobei die Erzählperspektiven von Kapitel zu Kapitel wechseln: mal erzählt Wilhelm der Altkommunist, dann seine genervte Frau Charlotte, schließlich deren Sohn Kurt und seine russische Frau Irina. Fünfmal sehen wir die Geschichte aus der Sicht Alexander Umnitzters, sogar der Urenkel Markus Umnitzer und die russische Schwiegermutter Nadescha Iwanowna kommen zu Wort.

Immerhin sind die zwanzig Kapitel in ihrer Gesamtheit so strukturiert, dass sie immer wieder auf zwei identische Zeitebenen verweisen: auf den 1.Oktober 1989, dem 90. Geburtstag des Altkommunisten Wilhelm Powileit, und das Jahr 2001, in dem der krebskranke Alexander Umnitzer auf den Spuren seiner Familie durch Mexiko reist. Die Schilderungen des Powileit-Geburtstages am 1. Oktober 1989 aus insgesamt  sechs Perspektiven gehören für mich zu den stärksten Passagen des Buches. Der literarische Scharfblick und der feine Humor, mit der Ruge die private Wirklichkeit der kommunistischen Mentalität dekuvriert, zeigen den Autor als einen Erzähler von hohen Graden. Die fünf Kapitel über Alexander Umnitzer ( vier davon über seine Reise durch Mexiko ) sind als sentimentaler Reisebericht ganz gut zu lesen, sie tragen aber wenig zum eigentlichen DDR-Thema des Buches bei. In ihnen geht es um einen vereinsamten und kranken Erwachsenen, der sich aus reiner Perspektivlosigkeit in die Fremde flüchtet.

Neun Kapitel (1952,1959,1961, 1966, 1973,1976,1979,1991,1995) berichten an unterschiedlichen Stellen des Buches über die Entwicklung der Familie Powileit-Umnitzer –  wieder aus verschiedenen Blickwinkeln, wobei die zeitgeschichtlichen Bezüge immer nur recht verhalten zu Wort kommen. Wirkliche Umbrüche werden in diesen Kapiteln nicht dargestellt, man erfährt immer nur retrospektiv, dass irgendetwas Neues geschehen ist, so dass man sich selbst nur mit einiger Mühe – immer unterbrochen durch die 1989er und 2001er Einschübe – beim Anlesen eines neuen Kapitels auf den letzten Stand bringen muss. Kein Wunder, dass bei diesem Verfahren die psychologischen Profile verschwimmen: Charlotte und Irina, obwohl sie sich gegenseitig keineswegs mögen, sind doch in ihrem Verhältnis zu Wilhelm und Kurt fast austauschbar, ebenso Kurt und Alexander in ihrer Beziehung zu ihren jeweiligen Vätern. Am Ende verfestigt sich der Eindruck, dass sich in diesem Roman neben einer DDR-Geschichte und einem melancholischen Reisefeuilleton auch eine Mann-Frau- und eine Vater-Sohn-Thematik befinden –  aber wie alles nur beiläufig und verstreut dargeboten und darauf angewiesen, dass der Leser sich selbst aus dieser Ansammlung von Standbildern einen Film in seinem Kopf zurechtschneide. NUR wenn dieser hohe Anspruch an den Leser zugleich auch als Merkmal eines guten Buches gelten soll, handelt es sich bei dem vorliegenden Roman um ein gelungenes Werk.

 

Meiner Ansicht nach aber hat Ruge nicht nur mit dem Prinzip der Vor- und Rückblenden übertrieben, er hat seinem Roman neben der der Zeitebenenverschachtelung auch noch den permanenten Perspektivenwechsel hinzugefügt und damit einen wirklichen Spanungsbogen unmöglich gemacht.  Und das ist schade: denn die Figuren und die sich andeutende Handlung hätten mich, anders erzählt, extrem interessiert. Ruges humanistische Grundhaltung und sein erzählerischer Ton haben mich, unabhängig vom formalen Aufbau, beeindruckt –  vielleicht lese ich den Roman deswegen noch einmal – diesmal aber so, dass ich nicht in der Zeit sondern im Inhaltsverzeichnis hüpfe und den Kapitel  chronologisch folge.