Ruge: Metropol

Die Lebenswirklichkeit des Stalinismus im letzten Jahrhundert besitzt Züge klassischer Horrorliteratur. Mit ihrer existentiellen Doppelbödigkeit, in der alles so oder anders verstanden werden konnte, mit lauter Gegenübern, die hinter deren Spießigkeit sich Monster verbargen, mit Beiläufigkeiten, die jederzeit eine tödliche Bedeutung  gewinnen konnten und  ihrer absoluten Vereinzelung könnte sie aus einem Stephen King Roman entsprungen sein. Die Rede ist von den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als der sowjetische Machtapparat damit begann, nicht nur sein eigenes Volk sondern auch die kommunistische Nomenklatura zu fressen. Hunderttausende, im Laufe der Jahrzehnte gar Millionen Unschuldiger, wanderten in Todeszellen und Gulag. Diesen Menschen gebührt uneingeschränktes Mitgefühl und Angedenken.

Aber soll  man auch Mitleid haben, mit den Opfern Stalins innerhalb der kommunistischen Partei? Ich finde nicht, denn die meisten von ihnen waren Mörder, die einem noch größeren Mörder in die Hände fielen. Nichts Ethisches unterscheidet Sinowjew, Radek, Trotzki oder Kamenjew von Stalin, außer dass Stalin sich als der geschicktere Machtpolitiker erwies.

Wie aber verhält es sich mit den sogenannten „kleinen Fischen“, den kommunistischen Agenten, Journalisten, Plakatklebern, Gewerkschaftlern?  Auch sie trugen durch ihre massenhafte Agitation zur Schwächung der Demokratie bei, auch von ihnen waren viele an Morden und Existenzvernichtungen Von solch „kleinen Fischen“, die trotzdem mit allen Fasern ihres Wesens an ihrem Leben hingen, handelt der vorliegende Roman, in dem der Autor das Schicksal seiner kommunistischen Großmutter und seines Stiefgroßvaters in den Zeiten des stalinistischen Terrors beschreibt.

Der Roman spielt im Moskau des  Jahres 1936, als  Autoren wie Heinrich Mann, Leon Feuchtwanger (der im Roman sogar einen Auftritt hat) und andere die „fortschrittliche“ Stalin-Verfassung preisen, während in der sowjetischen Praxis der Terror herrscht.  Charlotte und Wilhelm, ein konspiratives Kommunistenpaar im Dienst der kommunistischen Internationale, befinden sich auf dem Weg von Deutschland in die UdSSR, als sie von der Verhaftung eines Parteigenossen namens Alexander Eumel erfahren. Dieser Eumel, der mit ihnen weitläufig bekannt war, wird kurz darauf im Rahmen eines stalinistischen Schauprozesse als Verschwörer und Trotzkist vor Gericht gestellt und erschossen. Nach der Logik innerkommunistischer Wachsamkeit und Überlebenssicherung melden Charlotte und Wilhelm ihre Kontakte zu Eumel sofort der Parteizentrale. So beiläufig und vollkommen unwichtig diese Kontakte auch gewesen sein  mochten, in der totalitären Welt der kommunistischen Apparate kommt nun ein lebensgefährliches Räderwerk in Gang, aus dessen unvorhersehbaren Wirken der Roman einen Großteil seiner Spannung bezieht.

In Moskau wohnen Charlotte und Wilhelm zunächst im luxuriösen Hotel „Metropol“, in dem sie  die Elite der kommunistischen Internationale treffen und mit Entsetzen registrieren, wie sie alle, einer nach dem anderen, verhaftet und erschossen werden. Andere Figuren treten auf wie etwa  Hilde Tal, die frühere Partnerin von Wilhelm, die sich nicht zu schade ist, Charlotte zu denunzieren,  oder  Wassili Wassiliwitsch Ulrich, der oberste Richter der Sowjetunion, der mit der Not der Verhafteten seine Perversitäten füttert. So unterschiedlich sie im Einzelnen auch sein mochten, der Terror, der über ihnen kreist wie der Engel des Todes, bleibt ihnen ein Rätsel. Mit einem tumben „Die Partei wird schon wissen was sie tut“ trösten sich die meisten, immer in der Hoffnung, dass es sie selbst verschonen möge. Hilfe Tal glaubt, es sei der  vom Klassenfeind unterwanderte NKWD,  der ohne Wissen Stalins mit sinnlosem Terror die Sowjetunion vernichten will. Ehe sie den Genossen Stalin von ihrer Entdeckung telefonisch unterrichten kann, wird sie selbst, die gerade noch Charlotte denunzierte, verhaftet und erschossen.  Der Wahrheit am nächsten kommt der zynische Richter Ulrich, der erkennt, dass Wahrheit und Fakten bei den Anklageerhebungen überhaupt keine Rolle mehr spielen. Die Geschichte funktioniert nach anderen Regeln, so dass es für ihn überhaupt kein Problem darstellt, Hunderte von Todesurteilen an einem Tag zu unterzeichnen.

Das Jahr vergeht, der Sommer kommt, die Stalinverfassung wird unter großem Jubel verabschiedet, doch der Terror hört nicht auf.  Jede Nacht knirscht der Aufzug, wenn der NKWD in das Hotel „Metropol“ eindringt  und die Todgeweihten abholt. Sogar auf der Neujahrsfeier erscheint der Geheimdienst und verhaftet den Pianisten vom Podium weg. Aber alle ducken sich weg, schreibt Ruge, alle „machen weiter. Die Kapelle macht weiter. Die Tanzenden machen weiter, auch wenn sie plötzlich wie zuckende Schatten aussehen. Wie Gespenster im knackenden Unterholz. Denn von der Kapelle sind ganze zwei Musiker übrig, der Schlagzeuger und der Saxophonist, denen vor Angst die Hände zittern.“  Am Ende gehen Charlotte und Wilhelm  angekleidet zu Bett, um nicht in Unterwäsche verhaftet zu werden.

Doch unwahrscheinlicherweise kommen sie davon. Nach 477 Tagen im Hotel „Metropol“ ist ihre Zeit in Moskau zu Ende. Sie werden mit Pässen und Geld in die Schweiz geschickt und überleben den Krieg. Warum gerade sie? fragt der Autor in seinem lesenswerten Nachwort und gibt eine Antwort über die Funktionsweise des Terrors, die ich so noch nicht gelesen habe. „Irgendwer hat irgendwo ein Kreuzchen oder Häkchen gemacht oder das Häkchen oder Kreuzchen vergessen oder irgendetwas übersehen oder ist einfach zu faul gewesen oder hat gerade einen Anruf von seiner Geliebten bekommen. Kurz, es war Zufall. Aber der Zufall gehört zum Wesen der außer Rand und Band geratenen Terror-Maschine Stalins. Sie nahm den Charakter einer Naturgewalt an und versetzte gerade dadurch in Angst und Schrecken. Jeder konnte denunziert werden. Jeder war in Gefahr. Und ebenso konnte jemand grundlos verschont bleiben.“

Wie bei den thematisch ähnlich gelagerten Werken von Schalamow, Rybakow, Grossmann, Solschenzyn und anderen handelt es sich bei „Hotel Metropol“ um eine halb dokumentarische, halb literarische Arbeit. Das kann leicht schief gehen, nicht aber in dem vorliegenden Buch. Fiktion und Relativität verschlingen sich auf eine Weise ineinander, die die Eindringlichkeit des Buches nur noch erhöht. Ein weiterer Vorzug kommt hinzu. Die Charaktere des Romans besitzen Tiefe und Glaubhaftigkeit, so dass man sich fast wider Willen mit all den Gestalten identifiziert, die als kommunistische Agenten einer totalitären Macht in ihren Heimatländern ihr Bestes taten, freiheitliche Systeme zu stürzen und die nun in Moskau um ihr Leben bibbern. Dass Charlotte, die Hauptfigur des Romans und Großmutter des Autors, die den großen kommunistischen Terror aus nächster Nähe miterlebte, nach dem Zweiten Weltkrieg freiwillig in die DDR zurückging, die ihre Bürger wie die Hasen in ihren Grenzen abknallen ließ, ist ohnehin mehr, als man verstehen kann.  Oder, um es in den Worten des zynischen Richters zu sagen: „Der Mensch glaubt, was er glauben will.“ Dieses Fatum literarisch durchsichtig gemacht zu haben, ist der Hauptverdienst des vorliegenden Buches.

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