Safranski: Hölderlin

Vor einiger Zeit fiel mir ein Gedicht in die Hände. Es trug den Titel „Die Hälfte des Lebens“ und ging wie folgt:

Mit gelben Birnen hänget
„Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
ihr holden Schwäne,
Und trunken vor Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen“

Der Autor des Gedichtes ist Friedrich Hölderlin, eine Gestalt, dessen Namen ich kannte, ohne wirklich Näheres über ihn zu wissen. War nicht der Widerstandskämpfer Graf Stauffenberg mit dem Ausruf „Es lebe das heilige Deutschland!“, einer Hölderlin Sentenz, auf den Lippen gestorben?  Grund genug, die vorliegende Biografie von Rüdiger Safranski  zu lesen, die mir von einem Freund zu Weihnachten geschenkt worden war. Hier meine Leseeindrücke.

Das Buch, wie immer bei Safranski flüssig und eingängig geschrieben, richtet sich an zwei unterschiedliche Leser: an den Liebhaber der Lyrik und an den Liebhaber der Kulturgeschichte. Zweifellos ist der zweite Zugang der einfachere, weil er sich der Anschaulichkeit und der Fakten bedient. In diesem Sinne zunächst die Lebensstationen Friedrich Hölderlins.  Geboren wurde er am 20.3.1770 in Württemberg in einem pietistischen Milieu der so genannten „Ehrbarkeit“. Der leibliche Vater starb als Hölderlin zwei Jahre alt war. Die Mutter heiratet erneut den wackeren Johann Christoph Gök, den späteren Bürgermeister von Nürtingen, der Hölderlin ein liebevoller Stiefvater ist. Auch er stirbt, als Hölderlin gerade mal neun Jahre alt ist.

Schon früh sprudeln die Verse aus dem Knaben heraus, und er spürt dass das Dichten sein Lebensschicksal werden wird. Doch der Wunsch der Mutter, er möge Pfarrer werden, hängt wie ein Damoklesschwert über ihm. Er besucht nach langem Zaubern und Widerstreben schließlich das  Tübinger Theologenstift, wo er mit Hegel und Schelling ein Zimmer teilt. Zum maßgeblicher intellektuellen Einfluss seiner jungen Jahre wird Hölderlins Lektüre von Spinozas pantheistischer Philosophie.   Unter dem Eindruck der Philosophie von Immanuel Kant zerbrechen sich Hegel, Schelling und Hölderlin den Kopf über die Möglichkeit der wahrer Erkenntnis und finden folgendes Bild: Der einzelne trägt das Feuer die Erkenntnis in Gestalt der Liebe in sich, aber diese Potenz muss „entfacht“ werden . Ist es entfacht, kommt es zur Aufhebung der Ding-an sich Spaltung und zur Subjekt Objekt Verschmelzung. Diesen Zustand, so vage er auch umschrieben war, nannten die drei Zimmergenossen „das Reich Gottes“. Man soll es nicht für möglich halten: über so  etwas grübelten die drei jungen Hochbegabten also  im Tübinger Theologenstift. Von den drei Freunden war Hegel im täglichen Umgang übrigens ein wenig beeindruckender Mensch. Alle waren später von seiner Karriere überrascht, auch wenn er bei den Leistungen regelmäßig Spitzenplätze belegte. Schelling, der Jüngste, war das unbestrittene Wunderkind.

Auf dem Tübinger Stift entwickelt Hölderlin die ersten Prinzipien seiner  Dichtung. Ihm reicht es nicht, wenn die Worte nur „fließen“, sie müssen durch strenge Formen gezähmt, veredelt und emporgehoben werden. Nicht zum „Expressiven“, sondern zum Erhabenen, Priesterlichen drängt es ihn. Dabei verliert der junge Dichter aber gelegentlich das konkrete Individuum aus den Augen, schreibt Safranski.  Er liebt die Menschheit, ohne noch die Menschen recht zu kennen.

Hölderlin gründet einen  „Dichterclub“ mit den beiden Freunden Magenau und Neuffer und verfällt in schwärmerische Verehrung für die Französische Revolution. Die Idee entsteht, die Kluft zwischen Poesie und Leben aufzuheben, ohne dass Hölderlin weiß, wie er das anstellen soll. Ein aufwühlendes Erlebnis wird die Begegnung mit Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands“, in dem Schiller den Verlust der mythischen Lebensprallheit durch das pflichtenüberladene monotheistische Christentums beklagt. Schillers Gedicht führt Hölderlin die Ödnis einer entzauberten Welt vor Augen, womit sich der junge Mann nicht abfinden will. Sein Roman „Hyperion“ sollte die Frucht dieses Projektes werden.

Nach dem theologischen Examen verspürt Hölderlin ebenso wie Hegel wenig Lust, Pfarrer zu werden. Er erhält über Schillers Vermittlung eine Hauslehrerstelle bei Charlotte von Kalb, einer umtriebigen und warmherzigen Muse der deutschen Dichterszene. Im herrschaftlichen Haus derer von Kalb  kommt es in Waltershausen zu einem Techtelmechtel mit der Gesellschaftsdame  Marianne Kirms, die ein Jahr später (1795) ein Kind zur Welt bringen sollte. Ob Hölderlin hier als Teil der empriichen Welt im Sinne Kants beteiligt war, lässt Safranski offen.

Immerhin macht sich Hölderlin in der Waltershausener Zeit endlich daran, seinen Roman („Hyperion“) zu schreiben, in dem er die Früchte seines Denkens und Fühlens der Öffentlichkeit mitteilen möchte. Im Prinzip eine gute Idee, denn es ist die  Zeit einer regelrechten Revolution des Romanlesens. Zwischen 1790 und 1800 erscheinen mehr Romane als das ganze vorige Jahrhundert zusammen. Es wird gelesen wie verrückt, vor allem von Frauenzimmern und Gymnasiasten, bei denen man nie w wissen konnte, die Romaninhalte auf ihre Gemüter wirken. Gelesen wird auch nun nicht mehr immer nur das gleiche Buch mehrfach, sondern viele Bücher hintereinander, so dass die bisherigen Bücher wie die Bibel ihren Rang einbüßen. Die Vielleser rufen die  Vielschreiber auf den Plan, schreibt Safranski (Von Lafontaine, der über 100 Bücher geschrieben hatte, hieß es, er könne unmöglich alle seine Bücher gelesen haben). Hölderlin aber hat mit seinem „Hyperion“ mehr im Sinn. Sein Roman soll philosophisch und poetisch in einem sein. Philosophisch geht es darum, den Zustand der Einfalt (das Nicht-Entfremdetsein mit sich selbst) zu überwinden, sich die Entfremdung, d.h. der Welt, hinzugeben und zu einer neuen höheren aufgeklärten Einheit zu finden. Das nennt Hölderlin die „exzentrische Existenz“ und umschreibt es,  als „vom Baum der Erkenntnis ein zweites Mal zu essen.“ Geschrieben ist der Roman in Briefform, wobei der Autor von einer abgeschlossenen Vergangenheit erzählt, was als poetische Form so ziemlich das Langweiligste ist, was man sich vorstellen kann. Der Romanprotagonist Hyperion beklagt in seinen Briefen an  seinem Freund Bellarmin darüber, dass ihm der Brückenschlag zu den mit Menschen nicht gelänge. Einzig in der Liebe finde er Erlösung, in der Liebe zur perfekten Priesterin Melite, die aber nur kurz währt und ihn wieder in Verzweiflung stürzt. Eine Teilnahme an einer Gedenkfeier für Homer bescherte ihm beglückende Gefühle der Teilhabe an einem großen Ganzen, die aber auch nicht lange vorhalten.  Eine dritte Erfüllung wird ihm in der Begegnung mit der Natur zuteil, und man ahnt es bereits: auch ihre Dauer ist begrenzt. Hyperion ist die Geschichte eines Protagonisten, der an der Welt (Safranski: an der „Dissonanz“) leidet und keine Harmonie findet. Soweit die Entwürfe (Thalia-Fassung) in den frühen Neunziger Jahren. Bis zur Endfassung des Werkes ist noch ein langer Weg.

Bald wird die  Hausmeisterstelle bei Charlotte von Kalb schwierig, weil der Sohn Fritz von Kalb dumm, verstockt und nur an der Masturbation interessiert ist, was, so Safranski, Hölderlin stark beunruhigt, weil er selbst mit diesem Problem zu kämpfen hat. Die Mutter, die weiß, wie blöde ihr Sohn ist, löst das Angestelltenverhältnis in großzügigster Weise und vermittelt Hölderlin einen Kontakt zu Schiller,  der ihn 1795 in Jena nicht nur als  „meinen liebsten Schwaben“ begrüßt sondern auch einige Gedichte von ihm veröffentlicht. In dieser Zeit vertieft sich der Kontakt Hölderlins zu dem radikalen Studenten Isaak von Sinclair, der ihn unterstützt wo er kann, nicht zuletzt. weil er sich in Hölderlin verliebt und an sein  „Ding an sich“ will. Tief beeindruckt ist Hölderlin von Fichtes charismatischem Auftreten in Jena (Drei Jahre vorher 1792: Der völlig unbekannte Fichte wird berühmt, als er eine religionsphilosophische Schrift veröffentlicht, die für Kants Werk gehalten wird)  Fichte vertritt mit seiner Ich-Philosophie einen radikalen Transzentendalismus, mit der er über Kant hinausgehen will. Er fordert seine Studenten auf, die Wand anzusehen und kommentiert: „Was Sie da sehen, ist nicht die Wand, sondern jemanden, der die Wand ansieht.“ Fichte propagiert die „Philosophie des absoluten Ichs“, in dem alles wurzelt und das die Subjekt Objekt Spaltung überwindet. Hölderlin bemerkt, dass diese Lösung nicht funktioniert (Denken ist immer intentional, d. h. nicht objektlos vorstellbar). Er bevorzugt als Brücke zwischen Ich und Welt die  Naturempfindung. Bei Hölderlin ist das „Ich“ die „Bühne der Empfindung“, ohne dass sie bei der Empfindung verschwindet.

Im Juni 1795 verlässt Hölderlin Jena plötzlich. Vielleicht will er nicht in die radikalen politischen Eskapaden Sinclairs verwickelt werden, vielleicht ist er beunruhigt über die Entbindung die Gesellschaftsdame Kirms, die ein Kind (von ihm?) erwartet, vielleicht ist es auch die Scham, einem Übersetzungsauftrag, den ihm Schiller zukommen ließ, nicht gerecht worden zu sein. Hölderlin besucht Schelling, das absolute Junggenie, das noch vor Abschluss seiner Tübinger Studien als neuer Stern am Himmel der Philosophie gilt. die beiden treten in einen regen Gedankenaustausch über Schönheit, Erkenntnis und Republik.

Anfang 1796 wird Hölderlin eine  Hauslehrerstelle bei der Bankfamilie Gontard in Frankfurt angeboten. Die Hausherrin Susette Gontard verzaubert den jungen Dichter auf der Stelle. Sie sollte zu Hölderlins „Diotima“ im Hyperion-Roman  werden. Als die Familie vor marodierenden französischen Truppen aus  Frankfurt flieht, kommt die Liebe zwischen Hölderlin und Susette Gontard zum Tragen, was immer das bedeuten soll.  Hölderlins starke Sympathie für die Franzosen wird in dieser Zeit durch deren Plünderungen nur leicht gemindert.

Im Zuge weiterer Kontakte zwischen Schelling, Hölderlin und Hegel entstand in dieser Zeit die Schrift „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“. Dieses Dokument wurde als fragmentarische Quelle im Jahre 1913 als handschriftliche Abschrift von Hegel im Fragment wieder entdeckt. Nach Safranski Meinung stammen seine Ideen aber von Schelling und Hölderlin. Sein Inhalt ist das Programm einer neuen Ethik und Ästhetik, die die Subjekt-Objekt Spaltung überwindet. Was dies konkret bedeuten soll, war Safranskis Text nicht wirklich zu entnehmen, was ich nicht dem Autor sondern meioneer eigenen Stumpfsinnigkeit anlaste.

Derweil arbeitet Hölderlin weiter am „Hyperion“, der durch Schillers Vermittlung sogar bei Cotta verlegt werden soll.  Eine Kürzung des Hyperion, die Cotta fordert, misslingt, auch Schiller mahnt zur Straffung und Kürzung. Die endgültige Fassung des Hyperion  erscheint als lyrischer Briefroman 1797 und 1799 als zweibändige Ausgabe und wird ein Flop. Ich selbst habe parallel zu dieser Biografie den „Hyperion“ Passagenweise weise gelesen und fühlte mich überfordert. Mehr  noch: in mir keimte der Verdacht, in meiner geistigen Beschränktheit Hölderlin nicht gewachsen zu sein. Die unsägliche Langeweile, die mich bei der Lektüre überkam, identifizierte ich als Ausfluss minderwertigen Menschseins, dem der Zugang zur lyrischen Klassik auf immer verwehrt bleiben würde.  Aber wie immer dem auch sei, was ist im Hyperion zu lesen? Hier eine kurze Zusammenfassung: Hyperion, der rückschauend seinem deutschen Freund Bellarmin von seinem Leben berichtet, wächst in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Südgriechenland im Frieden der Natur auf. Sein weiser Lehrer Adamas führt ihn in die Heroenwelt des Plutarch und das Zauberland der griechischen Götter ein und begeistert ihn für die griechische Vergangenheit. Sein tatkräftiger Freund Alabanda weiht ihn in die Pläne zur Befreiung Griechenlands ein. Er lernt Diomtima kennen. Sie gibt ihm die Kraft zur Tat. Er nimmt im Jahre 1770 am Aufstand der Griechen teil, doch die  Rohheit des Krieges stößt ihn ab. Er wird schwer verwundet, Alabanda muss fliehen, und Diotima stirbt. Hyperion geht nach Deutschland, aber das Leben dort wird ihm unerträglich. Deshalb kehrt er nach Griechenland zurück und lebt dort als Einsiedler. In seiner Einsamkeit findet er Trost in der Natur und schließlich zu sich selbst. Soweit die Zusammenfassung. Goethe ist von dem hohen Ton des Hyperion nicht erbaut und empfiehlt mit dem ihm  eigenen Takt „die kleine Form“.  1797 empfängt er „Hölterlein“ (so sein Eintrag in seinen Aufzeichnungen)  in Frankfurt und kann mit dem Junggenie und seinem Werk nichts anfangen.

Im September 1798 kommt es im Hause Gontard zum Eklat, als der Bankier die enge Beziehung des Hauslehrers zu seiner Gattin zur Sprache bringt. Möglicherweise hat der Bankier den Dichter sogar geohrfeigt. Hölderlin verlässt sofort das Haus. Gleichzeitig spitzen sich  1798/99 die politischen Verhältnisse im Vorfeld des Fürstenkongresses von Rastatt zu. Unter französischer Oberherrschaft sollen neue Grenzen gezogen werden, und überall hofften die Republikaner (vergeblich), dass ihnen in die Franzosen bei der Errichtung einer Republik behilflich sein werden. Auch Hölderlin wird vom politischen Furor begriffen und versucht sich am Drama „Der Tod des Empedokles“, ohne dass er es vollendet. Sein Anliegen „Kein König kann die Bürger retten, sie müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen“ ist nachvollziehbar, an der Umsetzung haperte es. Nun reihen sich die Misserfolge aneinander wie die Perlen einer Schnur. Die Idee einer literarischen Zeitschrift, in der alle großen Meister der Klassik schreiben sollen, misslingt. Die Liebe zu Susette Gontard dümpelt von einem geheimen Treffen zum anderen dahin und verläuft schließlich im Sande.

1800 logiert Hölderlin  im Haus des großzügigen  Freundes Christian Landauer und erlebt einen regelrechten Schaffensrausch. Kapitelweise entfaltet Safranski Interpretationen der Elegien und Oden, die in dieser Zeit entstanden sind. Aber auch dieser Schaffensrausch bringt kein Geld ein – die Mutter hockt auf dem Erbe und will es nur herausrücken, wenn Hölderlin Pfarrer wird –  so dass sich materielle Probleme bemerkbar machen. Der Plan, an der Universität von Jena eine Professorenstelle für Griechisch zu erhalten, scheitert ebenso wie die Herausgabe einer Auswahl von Hölderlin-Gedichten durch Cotta. Auch wenn Hölderlin  bei Insidern wie Brentano, Armin und den Schlegels anerkannt ist, bleibt er dem großen Publikum unbekannt. Es droht das Abgleiten in die Vikarexistenz.

In dieser Situation erhält er das Angebot einer Hauslehrerstelle in Bordeaux. Ende 1801, dem Jahr in dem sich Napoleon zum Konsul auf Lebenszeit ernennen lässt, wandert er  zu Fuß durch Deutschland und durch Frankreich. 1802 ist er für einige Monate Hauslehrer im Hause  des reichen Weinhändlers Meyer, doch schon im Mai verlässt er das gastfreundliche Haus ( Schopenhauer sollte zwei Jahre später ebendort zu Gast sein) und kehrt inklusive eines Umwegs über Paris nach Deutschland zurück. Warum dieser überstürzte Aufbruch, fragte Safranski. Einsamkeitsanfälle, Anzeichen der Depression? Verwirrung? Als „den von Apollo Geschlagenen“, eine Umschreibung des herannahenden Wahnsinns, bezeichnet sich Hölderlin in diesen Tagen in einem Brief. Als er wieder in Deutschland eintrifft, wirkt er heruntergekommen, verwahrlost, unberechenbar und schockt seine Freunde. Die Nachricht vom Tod Susette Gontards versetzt ihm einen zusätzlichen Schlag, so dass 1802 die ersten ärztlichen Behandlungen notwendig werden.  Sein Freund Isaak von Sinclair, trotz seiner radikalen Ansichten mittlerweile zum Regierungschef im Fürstentum Homburg aufgestiegen ist,  verschafft ihm auf eigene Kosten eine Bibliothekarsstelle, die keinerlei Dienstverpflichtung beinhaltet. Hölderlin schreibt weiter, das Gedicht „Hälfte des Lebens“ ( siehe oben) entstammt dieser Zeit.

1805 kommt es zur Affäre Blankenstein, Blankenstein war ein jugendlicher Betrüger und Geliebter Sinclairs. Als dieser ihn bei einem Lotteriebetrug erwischt, denunziert Blankenstein Sinclair beim Fürsten. Sinclair, Hölderlin und andere werden des Hochverrats beschuldigt. In diesem Zusammenhang wird ein Gutachten über Hölderlin erstellt, dass dessen Unzurechnungsfähigkeit feststellt. Im September 1806 wird er in eine Klinik in Tübingen eingeliefert, die von dem  Mediziner Autenrieth geleitet wird. Er behandelt Hölderlin  mit „Gesichtsmaske“, „Palisadenzimmer“ und „moralische Diät“ und entlässt ihn Mitte 1807 als unheilbar in die private Pflege des Tübinger Tischlers Ernst Zimmer.

Seine gesamte zweite Lebenshälfte, von 1807 bis 1843, verbringt Hölderlin im Turmzimmer bei der Familie Zimmer in Tübingen.  In dieser Zeit hat er ruhige und aufgeregte Phasen, wandert durch die Gärten und wird manchmal von Studenten abgeholt und zu Spaziergängen durch die Weinfelder mitgenommen. Besuche von Eduard Mörike, Ense von Varnhabeg, Waiblinger und anderen halten die Erinnerung an ihn wach. Leider verliert er sein angenehmes Äußere, auch wenn er auf dem Klavier noch munter musizieren und dazu singen kann. Er schreibt weiter, allerdings zunehmend nur banales Zeug. Die Besucher berichten von Redeschwall ohne Tiefe.

Safranski entfaltet drei  Deutungen seines Zusammenbruchs: (1) Hölderlin brach aus Enttäuschung über die ausbleibende Anerkennung seines  Werkes zusammen (Dann müssten unsere Heilanstalten heute voller verhinderter Dichterfürsten sein und auch der Verfasser dieser Zeilen müsste bald eingeliefert werden) (2) Berteaux: Hölderlin simulierte seinen Wahnsinn, um vor Nachstellungen und Zumutungen sicher zu sein (Das hält Safranski für völlig unwahrscheinlich.) und (3) am wahrscheinlichsten: Hölderlin war an einer unheilbaren und fortschreitenden Schizophrenie erkrankt.

Sein Nachruhm entfaltet sich nur langsam.  In der Romantik wird an Hölderlin zwar gedacht, eine besonders breite Verbreitung erfahren seine Schriften aber noch nicht. Immerhin erhält Nietzsche von  Hölderlin wesentliche Teile seines Griechenlands- und Lebensbildes, Stefan George ist dann von Hölderlin wie elektrisiert und macht ihn populär. Auch Heidegger bezieht sich in seiner Philosophie  auf Hölderlins ganzheitliche Welt- und Naturempfindung. Unter Linken ist in der frühen Bundesrepublik sogar vom „Jakobiner Hölderlin“ die Rede.

Soweit das Buch Safranskis, das ich in den Weihnachtstagen in einem Rutsch las. Was habe ich daraus (vorläufig) gelernt? Das Werk Hölderlins versperrt sich dem schnellen Verständnis. Der hohe Ton ist den heutigen Lesegewohnheiten fremd, obwohl einzelne Passagen unmittelbar beeindrucken.  Die Sprache ist poetisch, die Ausrichtung auf das Ganze der Natur, der Welt und der Politik ist mir sympathisch, zugleich sehe ich aber auch, dass sein Geraune jeden einlädt, seinen eigenen Seiber darin zu vermischen. Das darf man aber Hölderlin nicht vorwerfen.  Er beklagte die „entzauberte Welt“ und wollte der  Johannes der Täufer eines neuen Gottes sein, der sich erst in Umrissen zeigt. Er sang sein Lied in Gestalt der Natur- und Weltpreisung in höchsten Tönen, wobei er sich an ein idealisiertes antikes Griechenlandbild anlehnte, das mit der historischen Wirklichkeit wenig gemein hatte.  Jakob Burckhardt und seine „Griechische Kulturgeschichte“ lassen grüßen. Schönheit war Hölderlin mehr als „interesseloses Wohlgefallen“, Schönheit war als persönliche Ergriffenheit eine Brücke zur absoluten Erkenntnis.   Für den unbedarften Leser unserer Tage (also auch für mich) ist es so, als klopfe bei der Lektüre Hölderlins etwas Höheres, Edles an die geistige Etagentüre wie eine Erinnerung daran, dass es noch viele Stockwerke nach oben weitergeht.

 

 

 

 

 

 

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