In den Schriften des jungen Marx findet sich immer wieder der Hinweis, er wolle „die Verhältnisse zum Tanzen“ bringen. Was aber, wenn es ein Veitstanz wird? Wenn die Verhältnisse so vollständig ins Rutschen geraten, wie man es sich niemals hätte vorstellen können? Wenn Millionen muslimischer Migranten unkontrolliert über die Grenzen strömen, Schüler die Schule schwänzten, um unter der Regie politischer Drahtzieher „für das Klima zu hüpfen“ und ehemalige SED-Mitglieder auf der Regierungsbank verkünden, wer demonstrieren darf und wer nicht? Richtig, dann befinden wir uns in den späten Ära Merkel.
Jemand, der die Veitstänze der späten Merkel Ära mehr als alle anderen Zeitzeugen in seinen Büchern abgespiegelt und kritisiert hat, ist der ehemalige SPD Politiker und Publizist Thilo Sarrazin. Es begann 2010 mit seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“, einer schonungslosen Bestandsaufnahme einer Gesellschaft im Kippzustand, die einen wahren Furor in den Mainstreammedien hervorrief. Das Neue an diesem Buch waren nicht die Fakten, die der Autor präsentierte (wenngleich dies auf sehr eindringliche Weise geschah), sondern der Umstand, dass zum ersten Mal ein Mitglied der politischen Elite klar und deutlich sagte: der Kaiser ist nackt.
Der Aufruhr über dieses Buch hatte sich doch gar nicht beruhigt, dann legte Sarrazin nach. Pünktlich zu den Siedepunkten der europäischen Verschuldungskrise postulierte er im Jahre 2012 „Deutschland braucht den Euro nicht“ und zeigte, dass Deutschland als leistungsfähige Volkswirtschaft genauso wenig wie die Schweiz oder Singapur einen größeren Währungsverbund benötigt, und schon gar nicht, wenn er vertraglich so butterwich konzipiert war wie der Euro.
Bekanntermaßen wurde Thilo Sarrazin mit diesen beiden Büchern zur „umstrittenen“ Figur, zur persona non grata der etablierten Medien. Am eigenen Leib erlebte er einen Missstand, der mittlerweile die Grenzen der Demokratie aushöhlt: die schrittweise Verengung des politische Meinungskorridors durch eine links dominierte politische Korrektheit. Dass Thilo Sarrazin diesen Sachverhalt zum Thema seines dritten Buches „Der neue Tugendterror“ (2014) machte, wird ihm bei seinen Widersachern wenig neue Freunde beschert haben.
Aber die Welt drehte sich weiter und wurde nicht besser. Der große Dammbruch des Jahres 2015 offenbarte die völlige Hilflosigkeit und Inkompetenz der regierenden Klasse, die vor einer weltgeschichtlich einmaligen Massenzuwanderung in Friedenszeiten kapitulierte. In seinem Buch „Wunschdenken“ (2016) dekuvrierte Sarrazin die unbegreifliche Unterkomplexität, mit der die politisch Verantwortlichen die Krise handhabten.
Sarrazins nächstes Werk „Feindliche Übernahme“Sarrazin: Feindliche Übernahme (2018) hatte bereits mit Behinderungen zu kämpfen. Weil Sarrazin in diesem Buch der offiziösen Sichtweise vom Islam als einer „Religion des Friedens“ widersprach und auf seine expansiven und demokratieproblematischen Elemente hinwies, weigerte sich sein Hausverlag das Buch zu veröffentlichen. Sarrazin musste auf einen kleineren Verlag ausweichen, seine öffentlichen Auftritte wurden durch Aufmärsche von Linksradikalen behindert, und selbst ehemals konservative Zeitungen wichen einer inhaltlichen Diskussion seiner Thesen aus.
Pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum von „Deutschland schafft sich ab“ hat Thilo Sarrazin mit „Der Staat an seinen Grenzen“ nun ein neues Buch vorgelegt. Es passt zum Meinungsklima der späten Merkeljahre dass der NDR das Werk bereits vor seinem Erscheinen mit einem Warnhinweis versehen hat. Grund genug, sich das neue Buch einmal etwas genauer anzusehen.
Der Dreh-und Angelpunkt des vorliegenden Buches ist die Frage nach der Grenze. Nicht der Grenze der Dummheit, denn die scheint es nicht zu geben, sondern die Frage nach den neu zu bestimmenden Grenzen staatlicher Souveränität angesichts einer heranbranden Massenmigration, die Deutschland und Europa in ihren Grundfesten bedroht. Diese Frage ist hochaktuell, denn der UN Migrationspakt des Jahre 2018 hat den Grenzen gewissermaßen den Krieg erklärt.
In diesem Pakt, der von drei Vierteln der UN Mitglieder unterzeichnet wurde, wird ein Open Border-Szenarium entfaltet, nach dem Migration immer und überall als „Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung“ verstanden werden soll. Migration erscheint in dieser Hinsicht nicht als die „Mutter aller Probleme“ (Horst Seehofer) sondern als die Lösung.
Das ganze erste Buchdrittel ist deswegen der Frage gewidmet, ob Migration tatsächlich für die aufnehmenden Gesellschaften immer ein Segen war, und die Antwort fällt eindeutig aus. „Mit großer Regelmäßigkeit und fast schon eherner Gesetzlichkeit bedeutete die Einwanderung in besiedelte Räume für die indigene Bevölkerung sinkenden Lebensstandard, erhöhte Sterblichkeit, Gewalt, Unterdrückung und Blutvergießen, bis hin zum Völkermord“, bilanziert Sarrazin. Was in den Geschichtsbüchern leichthin als „Verdrängung“ von Völkern beschrieben wird, war in Wahrheit ein blutiges Geschäft, das mit der Ausrottung des Neandertalers begann und mit den Völkerverschiebungen nach dem 2. Weltkrieg nicht endete.
Wie aber steht es mit der vermeintlichen win-win-Situation, nach der die Migration junger Männer aus Drittweltändern zum Ausgleich sinkender Geburtenraten in westlichen Gesellschaften herangezogen werden kann? Diese Idee ist nach Sarrazins Meinung gleich aus mehreren Gründen eine Chimäre. Zuerst und vor allem wird die Dimension der globalen Bevölkerungsexplosion weit unterschätzt. Hätte Deutschland die gleichen Geburtenraten wie die Staaten Subsaharas, dann hätte sich seine Bevölkerung zwischen 1950 bis 2020 von 70 auf 440 Millionen Menschen (!) erhöht. Mit anderen Worten: die Bevölkerungsexplosion in Nordafrika, Westasien und Subsahara ist derart exorbitant (35 Millionen pro Jahr), dass jeder Versuch, diese Länder von diesen Millionen „zu entlasten“, zum Untergang des Westens führen würde. Nimmt man ihnen aber nur Bevölkerungskontingente ab, die für die Aufnahmestaaten verkraftbar wären, bleibt die Entlastung für Entwicklungsländer unterhalb der Fühlbarkeitsschwelle.
Ein zweites Argument bezieht sich auf die mangelnde Qualifikation der Zuwanderer, ein besonders heißes Eisen, dessen bloße Thematisierung dem Mainstream bereits als „rassistisch“ oder „menschenverachtend“ gilt. Das ändert aber nichts daran, dass von den etwa zwei Millionen „Schutzsuchenden“, die sich in Deutschland aufhalten, ¼ keine Schule und ¾ keine Ausbildung. absolviert haben. Ihre Hartz IV Quoten liegen um das Vier- bis Zehnfache über dem deutschen Durchschnitt. Schon der jetzige Bestand an „Schutzsuchenden“, von denen großer Teil lebenslang alimentiert werden muss, wird gigantische Folgekosten generieren. Hans Werner Sinn hat dies auf die Formel gebracht. „Das Rentenalter muss steigen, um die Flüchtlinge zu ernähren.“
In einem ganzen Kapitel diskutiert Sarrazin die Frage, ob es angesichts dieser Umstände eine Art Naturrecht auf Migration gibt, was er entschieden verneint. Völkerrechtlich ist die Basis allen Handelns die staatliche Souveränität über die eigenen Grenzen, die ein Staat nicht aufgeben kann, will er sich nicht selbst zur Disposition stellen. Auch moralisch ergibt sich keine Anspruch auf Migration, weil jeder Staat sein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss. Die ostasiatischen Länder lassen grüßen.
So führt im Interesse der Selbsterhaltung letztlich kein Weg an einer Steuerung der Einwanderung vorbei. Im letzten Kapitel seines Buches macht Sarrazin dazu konkrete Vorschläge, von denen man jetzt schon sagen kann, dass sie ihm den geharnischten Zorn der „Refuge Welcome“-Fraktion eintragen werden. Sie laufen kurz gesagt, auf eine Änderung des Asylrechts und eine Wiederherstellung nationaler Grenzsysteme heraus. Innerhalb von dreißig Tagen soll eine zentrale und adäquat ausgestattete Behörde über die Aussichten eines Antragstellers entscheiden, der sich in dieser Zeit in einem Ankerzentrum an der Grenze aufhalten muss. Erscheint der Antrag chancenlos, wird der Antragsteller abgeschoben. Politischer und ökonomischer Druck wird dafür sorgen, dass die Herkunftsländer ihre Bürger auch zurücknehmen. Die auf diese Weise frei werdenden finanziellen Ressourcen sollen für eine bessere Integration bereits im Land befindlicher Migranten aufgewendet werden.
Was die Aussichten auf die Umsetzung dieser hier nur grob skizzierten Vorschläge anbelangt, darf man sich keinen Illusionen hingeben. Zu machtvoll sitzen die Gesinnungsethiker an den Schalthebeln von Kirchen, Medien und Parteien, zu gut verdienen die Angehörigen der Migrationsindustrie am gegenwärtigen Desaster, als dass man wirkliche Veränderungen erwarten könnte.
Der Wert des Buches liegt anderswo: in der möglichst sachlichen Information des Publikums über ein existentielles Problem, dessen Konturen im veröffentlichten Mainstream verzerrt und beschönigt werden – und im Entwurf eines neuen, verantwortungsethisch motivierten Framings der Migrationsproblematik. Angesichts der Anfeindungen und Verdrehungen durch eine zivilgesellschaftliche Hetzmeute besitzt die Unverdrossenheit, mit der Thilo Sarrazin dieses aufklärerische Projekt verfolgt, etwas Tapferes. So kann das vorliegende Buch über seine informierenden und wertenden Aspekte hinaus auch als das Zeugnis eines patriotischen „Sozialdemokraten alter Schule“ gelesen werden, der an die Rationalität von Argumenten glaubt und die Hoffnung nicht aufgeben will, dass eine unvoreingenommene Wahrnehmung und Beschreibung der Realität der erste Schritt zu Besserung ist.