Das Buch „Der Vorleser“ handelt von der Jugendliebe eines 15jährigen Gymnasiasten zu einer rätselhaften 36jährigen Frau, die von ihm verlangt, ihr vor jedem Liebesakt, vorzulesen. So lernt die Frau die Literatur und der Junge die Liebe kennen, ehe sich ihre Wege trennen. Was sich halb despektierlich, halb poetisch anhört, gewinnt eine andere Dimension, als im zweiten Teil des Buches die Biographie der Frau deutlicher wird. Bei der älteren Geliebten handelte es sich um eine frühere KZ Aufseherin, die bei der Selektion der jüdischen Frauen im Konzentrationslager regelmäßig junge Mädchen zurückhielt, die ihr vorlesen mussten, ehe auch sie in das Vernichtungslager nach Auschwitz geschickt wurden. Als Jurastudent begegnet der Protagonist dieser Frau im Gerichtssaal wieder und erkennt, dass seine Jugendliebe eine Analphabetin war und nicht lesen konnte und sowohl die Mädchen im KZ wie auch ihn zur Befriedigung ihrer literarischen Neugierde benutzte. Als sie zu lebenslänglicher Haft verurteilt wird, beginnt der junge Mann, dessen Beziehungen von wenig Glück geprägt sind, der inzwischen gealterten Frau Kassetten zu schicken, auf denen er ihr weiter vorliest. Er liebt sie nicht mehr, fühlt sich aber für sie verantwortlich, und versucht ihr nach der Begnadigung eine Stelle zu besorgen, doch die Frau bringt sich selbst an dem Tag ihrer Freilassung um.
Das ist die Geschichte, nicht sonderlich lang oder kompliziert, die in kurzen klaren Sätzen erzählt wird, wobei die Geschichte der bundesrepublikanische Nachkriegszeit als Bühnebild. fungiert. „Wenn bei Flugzeugen die Motoren ausfallen, ist das nicht das Ende des Fluges. Die Flugzeuge fallen nicht wie Steine vom Himmel. Die Passagiere merken nichts. Fliegen fühlt sich bei ausgefallenen Maschinen nicht anders an als bei arbeitenden“, heißt es in dem vorliegenden Buch aus S. 65. Ob das stimmt, sei dahin gestellt, der Autor benutzt dieses Bild von den ausgefallenen Maschinen und dem Gleitflug ins Verderben jedoch als Gleichnis für das Ende der Liebe, eine überraschende und schöne Metapher, von denen es in dem Buch so viele gibt, dass der internationale Erfolg des Werkes nicht verwunderlich ist. Dass das Buch bei den deutschen Feuilletons weniger geneigte Aufnahme fand, liegt vielleicht an der kritischen Beleuchtung, in der die selbstgerechten Wiedertäufer der 68er Bewegung erscheinen, vielleicht auch an einem Mangel von politisch korrekter Zerknirschung, auf die in dem Buch zugunsten echter moralischer Reflexion verzichtet wird. Doch es ist ein durch und durch lesenswertes Buch, ein Versuch über die Unempfindlichkeit auf ihren verschiedenen Ebenen, die Unempfindlichkeit des Vaters gegenüber dem Sohn, der jüngeren Generation gegenüber den Vätern, die Hitler nicht verhindert haben, der Geliebten gegenüber dem Schicksal der von ihr in den Tod geschickten Vorleserinnen. Und es ist ein Buch über die Erinnerung, denn „die Schichten des Lebens ruhen so dicht aufeinander, dass uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht als Abgetanes und Erledigtes sondern als gegenwärtig und lebendig.“(206)