Der Lebenslauf vieler Altachtundsechziger wie Rüdiger Safranski, Helmut Lethen und Hans Magnus Enzensberger gibt Anlass zum Erschrecken und Hoffen zugleich. Anlass zum Erschrecken, weil man von heute aus gesehen gar nicht mehr glauben kann, welchen hanebüchenen Unsinn die Angehörigen unserer heutigen Kulturelite einmal geglaubt haben – Hoffnung, weil man an ihrem Beispiel auch erkennen kann, dass sich im Laufe der Zeit Vernunft und Realität wieder durchsetzen. Das gilt bedauerlicherweise nicht für alle. Leider gib es noch immer viele (möglicherweise ist es die Mehrheit), die ihre juvenilen Denkstörungen wie eine nicht ausgeheilte Kinderkrankheit mit sich herumschleppen.
Von einem, dem man das nicht vorwerfen kann und der sogar Rechenschaft über seine Verirrungen ablegt, handelt das Buch „Rebellion und Wahn“ von Peter Schneider. Peter Schneider, ein bekannter Aktivist der 68er Bewegung hat ein Buch am Schnittpunkt von Biografie und Zeitgeschichtsschreibung vorgelegt und fragt: Was an 68 war Rebellion, und was war Wahn? Schon die Frage hat etwas politisch Unkorrektes, denn mittlerweile ist die 68er Bewegung ins Sakrosankte entrückt und gilt dem unbedarften Mainstream als „zweite intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“. Dass es sich in Wahrheit viel komplexer verhielt, zeigt Schneiders Lebensbericht, der mit seiner kulturbehüteten Kindheit beginnt und in den siebziger Jahren endet.
Auf diesem Lebensweg begegnet ihm ein ganzer who´s who der linken Gegenkultur, die ihm zu Freunden, Förderer oder Konkurrenten werden. Fast allen gemeinsam waren, so Scheider, persönliche Verletzungen, die die Akteure mit sich herumtrugen und vor denen sie (nicht nur, aber auch) in die Politik flohen. Am Beispiel von Gudrun Ensslin und Burchkhardt Vesper notiert er: „Das Paar strahlte Unglück und sexuelles Unerfülltsein aus und hatte gerade darin etwas Paradigmatisches. Nicht wenige der späteren 68er-Protagonisten waren mit dem Bernward-Gudrun-Syndrom einer heillosen Nervosität, einer körperlichen, nur intellektuell aufgefangenen Unruhe und Fahrigkeit geschlagen. Viele von uns Kriegs- und Nachkriegskindern waren vorzeitig aus dem Nest gefallene Küken, die sich in ihren Körpern nicht wohl fühlten und sich und andere nicht lieben konnten.“
Als junger Student lernt Peter Schneider an der Berliner FU Peter Szondi kennen, der später Selbstmord begehen sollte und kommt in Kontakt zum „kahlen“ Fritz Haugh, dessen Debattenclub, ihm wie eine „Sekte“ erscheint. Schließlich lernte er Rudi Dutschke kennen, von dem nur in höchsten Tönen die Rede ist: „Er war ein Mann reinen Herzens“, schreibt Schneider. „Nie hatte ich das Gefühl, dass er hinter meinem Rücken über mich etwas verlauten ließ, was er mir nicht ins Gesicht gesagt hätte. Er sah sich als Diener einer Sache, die ihm nicht gehörte, und nahm seine Führerrolle als ein Mandat an, das ihm – von den Massen? von der Vorsehung? – zugeteilt war. Es war ihm nicht gegeben, sich über jemanden lustig zu machen, auch nicht über sich selbst.“
Aber neben der Politik gab es noch eine anderes, ein zweites Leben für den jungen Schneider: seine Liebe zur schönen „L“. Sie geistert durch das ganze Buch als Folie des schneiderschen Weltunbehagens, sie liebt ihn, betrügt ihn, verlässt ihn und kehrt auch wieder zu ihm zurück – mit einem Wort: sie treibt ihn in den „Wahn“, vor dem er in die „Rebellion“ flieht. Um wen es sich bei dieser L, die eine Nacht mit Axel Springer verbringt und sich am Ende sogar dem Terrorismus annähert, handelt. habe ich nicht herausfinden können. Ich halte es immerhin für möglich, dass Schneider in der L eine Fantasiefigur konstruierte, die es ihm erlaubte, Liebe und Politik gegenüberzustellen.
Als Unterstützer des SPD Wahlkampfes von 1965 lernt Schneider Willy Brandt, Karl Schiller und Egon Bahr kennen, ebenso den bärbeißigen Günter Grass und den Verleger Klaus Wagenbach. Schließlich bricht er sein Studium ab, weil ihm Politik und Liebe keine Zeit mehr zum Lesen lassen. Die Studentenrevolte radikalisiert sich und fordert die ganze Person.
Zu den lesenswertesten Passagen des vorliegenden Buches gehören Schneiders Reflektionen über das Verhältnis seiner Generation zu den Eltern. Inzwischen, selber Vater geworden, schämt er sich darüber, wie er seinen eigenen Vater behandelt hat, der ein normaler und aufrechter Mann, eher ein Opfer der Nazizeit, denn ein Täter gewesen war. Aber all das zählte damals nicht vor der moralischen Bigotterie einer selbstgerechten Jugend. Tausende Familien zerbrachen damals, weil die heranwachsende Generation Gefallen daran fand, ihre Eltern mit der Nazikeule zu traktieren.
Diese Atmosphäre und die schrittweise Radikalisierung der Berliner Studentenbewegung bestimmen hinfort Scheiders Leben. Obwohl er von der Notwendigkeit einer Aufarbeitung der Nazizeit und der Sinnhaftigkeit der Vietnamproteste überzeugt ist, bemerkt er mit Unbehagen, dass das Verhältnis seiner Mitstreiter zur Gewalt ambivalent ist. „Tatsächlich gab es bereits vor dem 2. Juni (1967) einen Plan, den Schah zu ermorden“, schreibt Schneider. „Der iranische Herrscher sollte auf der Fahrt zum Charlottenburger Schloss durch eine ferngesteuerte Bombe umgebracht werden. Die zum Attentat entschlossene Gruppe bestand aus deutschen Genossen mit Beziehungen zur Kommune I, als Techniker stand ein Iraner zur Verfügung. „Ein Trend zur Verrohung macht sich breit, der die Grenzen des Anstandes hinwegschwemmt. Geradezu unsäglich findet es der Autor, wie sich die Kommune 1 öffentlich über die Toten des Brüsseler Kaufhausbrandes lustig macht, weil es ja nur „Konsumidioten“ gewesen wären, die verbrannten. Von daher war es nicht mehr weit zu Ulrike Meinhofs enthemmter Sprache, die aus dem Gegner einen Feind, einen „Bullen“, ein „Schwein“ oder „Charaktermaske“ macht, auf die man „schießen“ konnte.
Bezeichnenderweise wurde diese Verrohung begleitet von einer bemerkenswerten intellektuellen Dürftigkeit, die die Komplexität der Welt auf das Prokrustesbett der eigenen Primitivideologie reduzierte. In ihrer Blindheit verfluchten die Studenten den Schah und hatten kein Auge für die ungeheureren Kräfte religiöser Leidenschaften, die die Mullahs an die Macht bringen sollten. Man feierte den totalitären Maoismus und den Lagerkommunismus in Kuba. Über die die Verbrechen des Stalinismus aber wollte man nicht so gerne sprechen und hielt (mit Ausnahme von Dutschke) allen Ernstes den DDR-Stasi-Staat für das bessere Deutschland.
Dilettantisch wie das Weltverständnis waren auch die politischen Aktionen der 68er. Einmal fuhren Dutschke und Nirmuman mit einem Sprengsatz in der Tasche durch Deutschland, um einen US-Sendemast zu sprengen. Da sie ihn nicht fanden, fuhren sie wieder heim. Der Sprengsatz lag anschließend monatelang unter dem Bett eines Sympathisanten und verschwand eines Tages auf Nimmerwiedersehen. An einer anderen Stelle erzählt Schneider, wie Rudi und Gretchen Dutschke Sprengstoff, den der linksradikale italienische Verleger Giovanni Feltrinelli nach Deutschland geschmuggelt hatte, in ihrem Kinderwagen durch die Stadt transportierten und ihren kleinen Hosea Che zur Tarnung auch noch oben drauf legten.
Interessant ist auch, was Schneider über die linke Kulturschickeria schreibt, die Dutschke und Konsorten einluden und sponserten. Dieser Aspekt hätte es verdient, etwas besser ausgeleuchtet zu werden. Schneider vermutet, dass Augstein und Buccherius an die Studenten spendeten, um Axel Springer zu schaden. Möglicherweise ging es um mehr, um einen Konkurrenzkampf der Kulturelite mit der poltisch-konservativen Elite, wozu sich die maßgeblichen Leute von Spiegel, ZEIT und Stern der Studenten als Rammböcke bedienten. Tatsächlich, möchte man von heute aus hinzufügen, waren sie erfolgreich. Die heutige linke Kulturelite ist längst zum Taktgeber der politischen Amtsinhaber geworden.
Nach 68 und dem Dutschke-Attentat geht Schneider nach Italien und besucht in der Villa von Hans Werner Henze den langsam wieder genesenen Dutschke. Es kommt zu Kontakt zur angehenden Terroristen Ina Siepmann, die 1982 Uhr als palästinensische Kämpferin im Libanon „fiel“ und Ulrike Meinhof, deren Sensibilität Schneider bewunderte – während er Klaus Rainer Röhl, ihren Mann, als echten Kotzbrocken abqualifiziert. Vielleicht, so mutmaßt Schneider, war die terroristische Sackgasse, in die sich Ulrike Meinhof verrannte, nichts weiter als ein gigantischer Umweg, um aus der Ehe mit Röhl herauszukommen. Auffallend übrigens, wie nachsichtig Schneider Ulrike Meinhof bewertet. Hier ist die Meinhof Tochter Ulrike Röhl eine entschieden bessere Gewährsfrau.
Als Peter Schneider lebensgeschichtlich das Umfeld der 68er verlässt und nach Italien geht, verliert das Buch ein wenig an Prägnanz. Auch der Versuch Schneiders, nach seiner Rückkehr aus Italien als Fließbandarbeiter bei Bosch im direkten Kontakt zu den Arbeitern die Revolution voranzutreiben, geht schief. Ende der Siebziger Jahre, am Ende des Roten Jahrzehnts (Koenen), ist Schneider desillusioniert, und sein langer Weg zurück in das Reich der Vernunft beginnt, die, wenn man so will, mit diesem selbstkritischen Buch seinen Abschluss gefunden hat.
Die 68er Bewegung aber lebte weiter – nicht in Gestalt einer Revolution, sondern in Form millionenfacher Ideologisierung einer ganzen Generation, die sich über Schulen und Medien perpetuiert. Die Rebellion ist nicht mehr nötig, weil die Rebellierenden und ihre Kinder an den Trögen der Macht angekommen sind. Nur der Wahn ist geblieben. Die Bestandteile und Ersatzstücke dieses Wahns in statu nascendi deutlich gemacht zu haben, ist das Verdienst des vorliegenden Buches