Im Moment ist die Ukraine schwer in Mode. Mit Recht bewundert der postheroische Westen die Tapferkeit und die Kampfkraft, mit der die Ukrainer ihr Land gegen den russischen Angriffskrieg verteidigen. Dabei wird leicht vergessen, dass der Ukrainer selbst auch kein Kind von Traurigkeit ist. Geschichtskenner wissen das schon lange und verweisen auf die schrecklichen Gemetzel der ukrainischen Geschichte. Auch die Kollaboration der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung mit den Nationalsozialismus während des Zweiten Welt Krieges wirft ein dunkles Licht auf dass derzeit so fleckenlose Bild der Ukraine.
Felix Schnell hat es unternommen anhand einer Untersuchung des vorrevolutionären und des revolutionären Russlands von den Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur stalinistischen Kollektivierung um 1930 die Gewaltstrukturen in der Ukraine nachzuzeichnen. Neben diesem rein historischen Anliegen verfolgt der Autor auch theoretische Ziele. Er interessiert sich für „Gewalträume“ und „Gruppenmilitanz“ als politische Variablen im innergesellschaftlichen Kampf. Unter einem Gewaltraum versteht der Autor eine Region, in dem die staatliche Gewalt fehlt und die Anwendung nichtlegitimer Gewalt zur entscheidenden Ressource wird. Gewalträume bringen charismatische Führerpersönlichkeiten und besondere Hierarchien hervor, sie tendieren aber über kurz oder lang dazu zusammenzubrechen, wenn sich ein siegreicher neuer Gewaltherr als neuer Herrscher etabliert. Da dies aber sehr lange dauern kann (manchmal Jahrhunderte wie im Kaukasus) entstehen Tradition der Gruppemilitanz, wir würden neudeutsch sagen „gewalttätige Parallelgesellschaften“ mit bestimmten, besonders gefragten Persönlichkeitszügen und Verhaltensstilen. Auch wenn der Autor auf aktuelle Bezüge nicht eingeht, eignet sich sein theoretisches Instrumentarium sehr gut zur Beleuchtung auch aktueller bundesdeutscher Probleme, man denke nur daran, wie viele Flüchtlinge aus traditionell unbefriedigten vorderasiatischen Gewalträumen in pazifizierte Gesellschaften wie Deutschland kommen und welche Folgen sich daraus bisher ergaben.
Doch zurück zur Ukraine. Schnell meint, dass die Ukraine aufgrund ihrer relativen „Staatsferne“ immer ein guter Nährboden für die Entstehung von Gewalträumen gewesen ist. Das mag auf den ersten Blick verwundern, liest man doch überall Schauergeschichten über die zaristische Geheimpolizei, die das ganze Land unter der Knute hielt. In Wahrheit war die polizeiliche Überwachung im Zarenreich sehr lückenhaft, weil der Großteil der polizeilichen Ressourcen für die Bekämpfung der Opposition eingesetzt wurde. Fragen wie die Sicherheit der Untertanen vor Kriminalität jeglicher Art traten demgegenüber zurück. Diese Fehlleitung polizeiliche Aktivitäten ist übriges ein klares Erkennungsmerkmal autoritärer oder diktatorischer Systeme. Wieder springt dem Leser der aktuelle Bezug in die Augen. Betrachtet man den Furor, mit dem die Regierung zur Zeit den sogenannten „Reichsbürger“ bekämpft und vergleicht sie mit den Defiziten bei der Verfolgung „gewöhnlicher“ Kriminalität, kann man sich seinen Teil denken.
Für den Kampf gegen die gewöhnliche Kriminalität war im vorrevolutionären Russland die etablierte Dorfgemeinschaft verantwortlich, die sich unbedrängt von staatlichen Eingriffen in Friedenszeiten auch recht gut durchsetzen konnte. Mit der anhebenden Industrialisierung und der Stadtwanderung der Bauern im Vorfeld des Ersten Weltkrieges wurde die Dorfgemeinschaft erschüttert, und es entstanden Banden, die in weiten Landstrichen die Macht ergriffen. Vor allem innerhalb der Revolutionszeit und während des russischen Bürgerkrieges begann ein Kampf aller gegen alle, was in der Ukraine mindestens drei Parteien bedeutete: die Roten, die Weißen und die partikularen Grünen, die für eine ukrainische Unabhängigkeit, für die eigene Macht oder was auch immer kämpften.
Auch nach dem russischen Bürgerkrieg dauerte es lange, ehe die Bolschewiken die Gewaltstrukturen wieder ansatzweise zurückdrehen konnten. Ruhiger wurde es erst wieder, als Lenin die NEP einführte. Neues Chaos in bisher unbekanntem Ausmaß brach herein, als Stalin die Kollektivierung verfügte. Sofort bildeten sich im ganzen Land exzessive Gewalträume, in denen ein Kampf des Staates gegen das eigene Volk tobte. In immer neuen Variationen, die zu den bedrückendsten Teilen des Buches gehören, beschreibt der Autor die Kollektivierung als einen großen Raubzug unzähliger Kommissare und Abgesandter, die nicht nur Privateigentum kollektivierten sondern sich zuförderst selbst bereicherten. Nachbarn konfiszierten sich gegenseitig, reiche Bauern traten als Kommissare auf, um ihren Konkurrenten ins Verderben zu treiben, und es kam zu planlosen Plünderungen und Morden. Erschwerend kamen die Getreidebrigaden hinzu, die von außen wie die Heuschrecken über die Dörfer herfielen. Stalin wusste sich gegen das von ihm selbst angerichtete soziale Chaos am Ende nicht anders als durch Terror und Völkermord zu helfen. Die Folge war der millionenfache Hungertod der Ukrainer in den Jahren 1932/33, der sogenannte Holodomr, an dessen Wiederkehr in diesen Tagne zum 90. Mal gedacht wird.
Man sieht, erfreulich ist die Lektüre des vorliegenden Buches nicht. Die Welt von 1900-1933 war eine Welt von Mord, Terror und Totschlag und nirgendwo so schlimm wie in der Ukraine. Und auch nachher wurde es nicht besser, wie das Standardwerk von Timothy Snyder über die „Bloodlands“Snyder: Bloodlands zeigt.