Ein nicht näher vorgestellter Erzähler trifft bei seinen architekturgeschichtlichen Streifzügen durch die Städte Mitteleuropas auf den etwas älteren Austerlitz, einen universal gebildeten sehr zurückhaltenden Menschen, mit dem sich über große Zeiträume hinweg eine intensive, zuerst sachliche, später persönliche Konversation ergibt. Man erfährt, dass der kleine Austerlitz als ein Waisenkind zunähst unbekannter Herkunft im Haushalt eines Geistlichen aufwuchs, dass er zur Schule ging, dass er dort Freunde und Gefährten traf, eine Leidenschaft für Kunst und Kultur und entwickelte und mit seinen herausragenden Begabungen zu den schönsten Hoffnungen berechtigte – wäre da nicht die Grundstimmung einer trübsinnigen Gemütsart, die dem heranwachsenden Austerlitz alle Freuden des Lebens gründlich vergällte. Schließlich kam es sogar zu einer manifesten Persönlichkeitskrise, in deren Verlauf dem Literateten und Bücherfreund Austerlitz zuerst das Schreiben und dann das Lesen entglitt, bis er von permanenter Schlaflosigkeit gepeinigt, Nacht für Nacht durch London lief, ohne zu wissen, was er eigentlich suchte. In einem dunklen Londoner Bahnhof steht er plötzlich einem fünfjährigen Waisen und zwei verhärmte Erwachsenen gegenüber und erkennt in dieser Halluzination urplötzlich die Szene seine Abkunft in London vor mehr als einem halben Jahrhundert. Doch woher kam er? Auf der Suche nach seiner eigenen Vergangenheit beginnt Austerlitz alle Barrieren der Verdrängung beiseite zu schieben und aus dem Fundus einer sich immer weiter erschließenden Erinnerung seinen Werdegang zu rekonstruieren. Es stellt sich heraus, dass der kleine Austerlitz aus Prag stammt und dass er von seiner jüdischen Mutter im letzten Augenblick vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten im Jahre 1939 zusammen mit anderen jüdischen Kindern nach Großbritannien verschickt wurde. Einmal auf der Fährte seiner Herkunft gesetzt, forscht Austerlitz weiter, reist nach Prag, ermittelt den Wohnort seiner Kindheit, trifft seine Kinderfrau wieder und erfährt von der Verschickung seiner Mutter erst nach Theresienstadt, dann in eines der Vernichtungslager Osteuropas.
Es ist eine ungewöhnliche Geschichte, die in einer ungewöhnlichen Erzählkonstruktion vor dem Leser ausgebreitet wird, aber noch viel ungewöhnlicher um nicht zu sagen: einzigartig, ist die Sprache, in der dies geschieht. Sebald ist ein Stilist allerhöchsten Grades, ein Sprachsinfoniker, dessen literarisch ausgefeilte Girlandensätze nicht nur eine ungemeine Prägnanz sondern einen fast musikalischen Rhythmus beisitzen. Ganz egal, ob die Sätze eine halbe oder dreiviertel Seite lang sind, ganz egal ob der ersten Absatz nach 173 Seiten kommt. ob das Dach eines Bahnhofs, die Fortifikation einer Festung oder der Tod einer Motte beschrieben wird, immer empfindet man Sebald Sprache als ein ungemein wirksames Mittel zur Aufschließung der Welt, als einen Wahrnehmungsverstärker und ein Medium der moralischen Sensibilisierung zugleich, mit des Sebald gelingt, Nuancen vorzuführen, wie man sie so noch nie gelesen hat. Aber Sebalds Ambition geht noch weit über die Gestaltung solcher literarischer Meisterminiaturen hinaus: Sebalds Thema ist die Erinnerung, genauer gesagt: ist die Rekonstruktion der Gegenwart aus der Erinnerung, einer Erinnerung, die sich nach noch unbekannten Regeln mal verschließt und mal öffnet und zusammen mit Einbildungskraft den Menschen zu dem macht, was er ist. Dabei waltet über allem Rekonstruierten die düstere Stimmung einer allgemeinen Sinnlosigkeit, von der man sich fast anstecken lassen könnte, wenn man liest, dass der Autor kurz nach der Vollendung dieses Meisterwerkes bei einem Verkehrsunfall zu Tode kam. Ein verstörendes Werk, das dem Leser ganz neue Horizonte der Literatur eröffnet, in denen er erst einmal heimisch werden muss.