Die deutschen Warenhäuser waren die sichtbarsten öffentlichen Symbole des Wirtschaftswunders. Ein einziger Ort, an dem man alles kaufen konnte, was für eine Offenbarung. Lange Zeit blühte das Geschäft, doch spätestens seit den Achtziger Jahren geriert das Konzept eines Universalkaufhauses, in dem man alles kaufen konnte, in die Krise. Nischenanbieter an den urbanen Peripherien kamen auf, die billiger und nicht schlechter waren. Und auch im Kerngeschäft, dem Textilverkauf, gewannen Konkurrenten wie H&M, Peek und Cloppenburg und andere Anbieter immer mehr Marktanteile. Karstadt, Hertie, Kaufhof und Horton, die großen deutschen Warenhauskonzerne, die in ihren Glanzzeiten noch über 500 Häuser in Deutschland betrieben hatten, reagierten ganz unterschiedlich auf die Strukturveränderungen. Horten und Hertie verschwanden, Kaufhof trennte sich früh und rigoros von verlustbringenden Häuern, verzichtete auf Expansion, die ohnehin nur Geld kostete und veränderte so gut es ging sein Markenimage im Hinblick auf die sich verändernden Kundenpräferenzen.
Karstadt dagegen fuhr einen Schlingerkurs aus Expansion und Schrumpfung, Glamour und Sparstrumpf, der den Konzern in den Abgrund riss. Wie genau das geschah, dokumentiert das vorliegende Buch des Wirtschaftsjournalisten Hagen Seidel. Vor dem Leser entsteht ein spannendes Stück deutscher Wirtschaftsgeschichte mit Helden und Schurken, Illusionen und harten fakten, an denen am Ende alle Rettungsversuche scheiterten. Durch die Verbindung dieses Niedergangs mit der Figur von Thomas Middelhoff, einer Lichtgestalt, die am Ende zum Hassobjekt wurde, erhielt die Geschichte eine fast tragische Dimension. Hier der Sachverhalt in aller Kürze.
Der Karstadt-Konzern hatte schon 1993 Hertie gekauft, um mit dessen Häusern in guter Zentrumslage das eigene Geschäft anzukurbeln. 1999 folgte die Fusion mit Quelle, woraus der Karstadt/Quelle Konzern und später (ab 2007) die Arcandor AG entstand. Ein imposanter Riesenkonzern wurde geboren mit weit über 100.000 Arbeitnehmern, ein Tanker des DAX, dem in dieser Größenordnung vermeintlich nichts mehr passieren konnte.
In Wahrheit waren die Schwachstellen des aufgeblähten Konzerns um die Jahrtausendwende kaum noch zu übersehen. Die Integration der zugekauften Unternehmensteile misslang, Synergieeffekte blieben aus, im Gegenteil: einzelne Konzernteile arbeiteten sogar gegeneinander. Auch das Engagement der Mitarbeiter war alles andere als beispielhaft, wofür es viele Gründe gab. Trotzdem wurden Sinn/Leffers und Wehmeyer dazugekauft, während sich der Versandhandel Quelle, auch eines der früheren Symbole des Wirtschaftswunders, zu einem Fass ohne Boden entwickelte. Die EDV Systeme waren veraltet und nicht kompatibel, das Image von Karstadt wirkte verstaubt, die Modetrends fanden keinen Anklang bei der Kundschaft. Die Rabattaktionen des Konzernleiters Wolfgang Urban puschten zwar den Umsatz, reduzierten aber die Gewinnspannen. Schließlich halbierte sich der Börsenkurs, und das Unternehmen flog aus dem DAX. In dieser Phase eines langsam zusammenbrechenden Konzerns betrat Thomas Middelhoff die Szene. Madelaine Schickedanz, die Hauptaktionärin von Karstadt-Quelle, veranlasste den Eintritt des Top Managers in den Aufsichtsrat. . Kurz darauf wurde er sein Vorsitzender, später operativer Chef des Vorstands.
Thomas Middelhoff, der bei Bertelsmann eine erstaunliche Karriere absolviert, dann aber wegen strategischer Differenzen entlassen worden war, begann mit einer Bestandaufnahme durch die Rothschild Bank. Das Resultat war eindeutig: der Konzern war total überschuldet, mit Ausnahme der Touristiksparte nicht profitabel und in seinem Kerngeschäft, den Warenhäusern, nicht konkurrenzfähig. Da die Eigenkapitalquote unter 1 % gesunken war, hätte Karstadt-Quelle Insolvenz anmelden müssen. Thomas Middelhoff übernahm das Ruder mit der Verabschiedung eines harten Sanierungspaketes, das im Wesentlichen aus vier Komponenten bestand:
- Abstoßen der Randaktivitäten wie Starbucks, Sinn-Leffers und Wehmeyer. Ein ganzer Firmenbereich von 2 Milliarden Euro Umsatz mit 25.000 Mitarbeitern wurde abgestoßen
- Stellenabbau in Problemhäusern. Wer blieb, verdiente weniger oder musste länger arbeiten
- Durchführung einer Kapitalerhöhung, die im guten Börsenumfeld unmittelbar vor der Finanzkrise noch gelang. Sie brachte eine halbe Milliarde Euro, wobei sich die Großaktionärin Madelaine Schickedanz im großen Stil engagierte, was ihr zum Verhängnis werden sollte.
- Ein Milliardenkredit zur Sanierung wurde bei einem Bankenkonsortium aufgenommen, wozu erhebliche Teile des Formenvermögens verpfändet werden mussten.
Kurz darauf gelangt Middelhof sein bedeutendster Coup. Unmittelbar bevor die Immobilienkrise in den USA ausbrach und bevor die Preise weltweit auf Talfahrt gingen, verkaufte er die Konzernimmobilien in den besten Innenstadtlagen für 3,7 Mrd. Euro. Damit wurde Karstadt-Quelle (zunächst) schuldenfrei , wurde aber gleichzeitig im Zuge dieses „sell and lease“ Geschäftes mit hohen Mietkosten belastet. Unter großem Aufwand wurde endlich der extrem erfolgreiche Touristikkonzern Thomas Cook von Lufthansa gekauft, der Internethandel wuchs – aber auf Kosten des überdimensionierten Versandgeschäftes, das immer größere Verluste schrieb.
In der Öffentlichkeit aber wurde Middelhoff 2006/7 als Retter und Wundermann gefeiert. Der Aktienkurs explodierte auf fast 30 Euro, ein neues Kursziel (40 plus x)wurde für die nächsten Jahre ausgegeben. Allerdings handelt es sich bei dem allgemein verkündeten „turn-around“ zum größten Teil um Bilanzkosmetik. So wurden zum Beispiel alle zum Verkauf stehenden Verlustbringer samt ihrer Minuszahlen einfach der Jahresbilanz herausgenommen. Denn in Wahrheit verdiente die Warenhaussparte als der Kern des Konzerns noch immer kein Geld. Quelles Zahlen wurden immer katastrophaler und der scheinbar so kostengünstige Einkaufsvertrg mit Li und Fung in Hongkong brachte minderwertige Ware ins Haus. Aufwendige Werbeaktionen wurden finanziert, verpufften aber wirkungslos.
In dieser heiklen Phase platzte die weltweite Finanzkrise. Karstadts Geschäfte gingen noch schlechter, die Geldgeber wurden noch nervöser. Der Anfang vom Ende begann, als die Warenterminversichererer, die die Karstadt-Quelle Einkäufe zwischenfinanzierten, drohten, aufgrund der sich verschlechternden Absatzlage auszusteigen, was das sofortige Ende für Arcandor bedeutet hätte. Eine Umfinanzierung von einer Milliarde Schulden, die Anfang 2008 fällig werde, scheiterte, weil eine der Konsortialführenden Banken, die Royal Bank of Schottland, sich wegen existentieller Probleme im Zuge der sich ausbreitenden Finanzkrise zurückziehen musste. Aber noch immer war die Agonie nicht beendet. Die Kölner Privatbank Sal. Oppenheimer sprang ein, musste einspringen, weil sie mit hohen Summen die Aktienkäufe von Madelaine Schickedanz finanziert hatte und im Zuge einer Konzernpleite ebenfalls Insolvenz hätte anmelden müssen. In dieser letzten Phase unmittelbar vor dem Zusammenbruch jonglierte Middelhof mit tausend Bällen gleichzeitig und verspielte seine Reputation, weil sie Ankündigungen sich mal zu mal als falsch erwiesen. Den Untergang des Konzerns konnte er trotzdem nicht aufhalten. Wenige Monate nachdem er aus den Führungsgremien von Karstadt-Quelle ausgeschieden war, brach der Konzern zusammen.
In der Öffentlichkeit wurde Middelhoff daraufhin zu einem der hässlichen Gesichter der Wirtschaftskrise, zu einer Person, die sich mit dem Hubschrauber an seinen Arbeitsplatz fliegen ließ, während die einfachen Verkäuferinnen herbe Gehaltseinbußen hinnehmen mussten. Wie aber sah seine Bilanz wirklich aus? fragt Hagen Seidel am Ende des Buches. Antwort: Durchaus durchwachsen. Nach Seidels Auffassung hat Middelhof Karstadt-Quelle im Jahre 2004 tatsächlich vor dem Untergang bewahrt. Auch seine Prognosen und Einschätzungen erwiesen sich bis 2007 als richtig. Doch das öffentliche Echo war von Anfang an zwiespältig. MIddelhoff kam immer „mit großer Bugwelle daher“ und umgab sich mit überwiegend schwachen Mitarbeitern , („Wenn man selbst nur eine 50-Watt-Birne ist, und man umgibt sich mit 5-Watt-Birnen, dann wirkt man wie eine 100-Watt-Birne.« vermerkte ein Beobachter). Auch fachlich war Middelhofs Bilanz nicht makellos, denn obwohl er mit Milliarden jonglierte, versäumte er es, sich über die Anwerbung geeigneter Führungskräfte auf der zweiten und dritten Ebene um den Neuaufbau des operativen Warenhausgeschäftes an der Basis zu kümmern. Eben darin bestand aber Karstadt Hauptproben. Extremes Spesengehabe und immer neue Gutachten verschlangen horrende Summen. „Roland Berger etwa brachte das Kunststück fertig, Middelhoff in einem Gutachten den Ausbau der Premium-Warenhäuser zu empfehlen, seinem Nachfolger Eick in einem anderen Papier aber den dringenden Verkauf anzuraten. Das Beraterunternehmen, mit dessen gleichnamigem Gründer Middelhoff inzwischen die Investmentgesellschaft BLM gegründet hat, schrieb selbstverständlich zweimal die Rechnung.” Und schließlich: Die Bilanzierungstricks bewegten sich tatsächlich am Rande der Legalität und Middelhofs Involvierung in einen Fons des Immobilienspekulator Esch, dessen Fond von den Mietzahlungen Karstadts profitierte, schufen böses Blut.
Als der Staatsanwalt schließlich im Wahlkampfjahr 2009 auf Anweisung der SPD-Justizministerin Zypries die Causa Middelhoff vor die Justiz birgt, beginnt auch der persönliche Untergang Middelhoffs. 2014 kommt es sogar zu einer zweifelhaften Verurteilung wegen Untreue im Amt und Steuervergehen. Unter demütigen Bedingungen wird Middelhoff noch im Gerichtssaal verhaftet. Die Schikanen, die Middelhoff während seiner Haftzeit erdulden musste, sind ebenso ein Skandal wie der Versuch der Staatsanwaltschat, die vorzeitige Haftentlassung wegen der Veröffentlichung seines Buches über seinen Gefängnisalltag zu verhindern Der in dieser Zeit veröffentlichte Roman „Johann Holtrop“ von Reinald Götz ist die literarische Frucht dieser gesamtgesellschaftlichen Stigmatisierung, ein Buch voller erschütternder wirtschaftswissenschaftlicher Inkompetenz und zugleich auch ein Dokument des Hasses.
Alles in allem repräsentiert das Buch von Hagen Seidel meiner Ansicht nach eine Sternstunde des Wirtschaftsjournalismus. In didaktisch geschickter Aufbereitung wird der Leser in die extrem komplexe Thematik eingeführt, Zwischenbetrachtungen über die Konzernbilanzen, über den Werdegang Middelhoffs oder die Auswirkungen der Arcandor-Krise aus der Sicht einfacher Verkäuferinne runden die Dauerstellung ab. Am Ende bleibt die Frage: War Arcandor überhaupt zu retten? Ohne dass der Autor daraus eine klare Antwort gibt, lautet sein implizites Urteil: eher nein. Die Strukturkrise der Warenhäuser erscheint unlösbar. Sie werden verschwinden wie Kutscherpeitschen oder Pferdedroschken. Das zeigen nicht zuletzt auch die Schwierigkeiten, mit denen Kaufhof, der letzte verbliebene große deutsche Kaufhauskonzern zu kämpfen hat.