Shakespeare: Bruce Chatwin.

ChatwinBruce Chatwin, der Autor von weltweit bekannten Reisbüchern wie ‚In Patagonien‘ und ‚Traumpfade‘ wirkt von heute aus betrachtet wie eine Schlüsselfigur der Siebziger und Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in denen eine völlig neue postmoderne Weltorientierung zum Durchbruch kam. Er verkörpert in seiner staunenswerten Karriere die damals gleichermaßen aufbrechende Grenzenlosigkeit der Welt UND der Sexualität, die Emanzipation der Minderheiten wie auch die Sehnsucht der Menschen nach Reisen und Bildung wie kaum ein anderer.

Dieses erstaunliche Leben wird von Nicolas Shakespeare in dem vorliegenden Buch einer solchen Breite dargestellt, dass für Chatwin Fans keine Fragen offen bleiben werden. Möglicherweise aber werden sich eben diese Chatwin Fans aber auch an der Unparteilichkeit stoßen, mit der sich Shakespeare seinem Gegenstand nähert. Shakespeare benennt Chatwins Stärken, seine Neugierde, seine geistige Wachheit, sein interessantes Auftreten, seine Kreativität und unterhaltsame Abgedrehtheit, verschwiegt er auch nicht seine Egozentrik, das Hochstaplerische seines Wesen, seine Halbbildung, die er noch Halbgebildeteren als Brillanz verkaufte, die aufgesetzten Fiktionen in seinen Büchern, sein Schmaroztertum, was seine Stoffe, seine Unterkünfte und seine Ehe betrifft und die unzähligen Mythologisierungen, mit denen Chatwins sich selbst als Fiktion popularisierte.

Chatwin begann seine Karriere mit 18 Jahren als Laufbursche bei Sothebys, wo es ihm gelang, innerhalb weniger Jahre zum Leiter der Impressionistenabteilung aufzusteigen. Dann studierte im Alter von 26 Jahren ein Jahr lang Archäologie in Edinburgh, was ihn aber auch nicht fesselte, weil er erkannte, dass Archäologen nicht jeden Tag Troja entdecken, sondern im wesentlichen ihr Leben lang mit dem Hintern nach oben im Schlamm herumwühlen. Typisch für Chatwin aber war, dass ihn der Kontakt zu Kunst und Archäologie sofort zu hochfliegenden Hypothesen inspirierte, die alle Fachleute nur mit Kopfschütteln quittierten, mit denen er aber bei den Feuilletoneliten gut ankam. Sein Erstling „Die nomadische Alternative“, in der er alle Übel der Menschheit auf die Selbstdomestikation des Menschen zurückführt, wird zwar noch abgelehnt, doch mit seinem Patagonien buch gelingt ihm der Durchbruch. Es folgen „Der Vizekönig von Ouidah“, „Auf dem Schwarzen Berg“ und in den Achtziger Jahren ‚Traumpfade“ und „Utz“. Mit ‚Traumpfade‘ wird er zum gefeierten Kultautor, auch wenn die Kritik nicht ausbleibt. Obwohl Chatwin sich alles in allem nur neun Wochen in Zentralaustralien aufgehalten, nie bei Aborigines gelebt oder mit ihnen gesprochen hatte und all seine Kenntnisse nur von weißen Gewährleuten erhielt, wurde das Buch sofort nach seinem Erscheinen für den Booker Preis nominiert und der Queen auf den Nachttisch gelegt.

Während der Abfassung seiner Bücher und der Recherchereisen in der ganzen Welt lebte Chatwin ein promiskuitives Sexualleben, vor allem in Schwarzafrika, in Brasilien und ab 1982 in der Schwulenszene von New York inklusive ihrer innovativen Darkrooms und Saunen. Öffentlich stilisiert er sich allerdings ganz anders. „Ich reise ohne Gepäck. Ich habe keinen Besitz. Habseligkeiten interessieren mich nicht, was haben sie schon für mich zu bedeuten“. In Wahrheit hielt ihm seine vor der Öffentlichkeit verborgene Frau Elizabeth unter großen finanziellen Mühen den Rücken frei. Fast alle Selbstmythologisieren der Chatwin Biografie – seine Konkurrenz zu den örtlichen Antiquitätenhändlers schon in der seiner Schulzeit, seine Warnung vor einem gefälschten Picasso gegenüber einem Kunstkenner, seine Erblindung bei der Katalogarbeit bei Sotheby’s, die erfundene Gruppenvergewaltigung in Benin, seine Wettlauf mit deiner Basketballmannschaft am Ayers Rock, sein hemmingwayartiges Verhalten in Australien, um nur einige zu nennen –  sind frei erfunden. Wie stark ihm homoerotische Beziehungen zu älteren Mentoren bei seiner Karriere halfen, bleibt dafür in der Öffentlichkeit unbekannt. Bruce Chatwin starb nach jahrlanger Krankheit im Januar 1989 in Nizza an Aids. Seine Asche wurde in der Nachbarschaft einer orthodoxen Kirche auf der Peloponnes zerstreut.

Fürwahr ein staunenswertes Leben, ein Komet, der kurze Zeit hell am Himmel von Literatur und High Society leuchtete, mit Jackie Onassis Tee trank und mit Picasso im Taxi fuhr und dann verglühte. Trotzdem bleibt die Frage: Worauf gründet Chatwins geradezu erstaunlicher Nachruhm, der bis heute andauert? Ganz sicher nicht auf seinen Werken, die – abgesehen von dem Patagonienbuch und den ‚Traumpfaden“-  längst vergessen sind. „Durch seinen frühen Tod und sein gutes Aussehen, das in der allgemeinen Erinnerung überwiegend intakt geblieben war, stand Bruce für das reklameträchtige Ideal des gebildeten Abenteurers“, schreibt Shakespeare auf S. 789. „Als Vorbild der Rucksackreisenden inspirierte er Schwärme junger Menschen, sich nach Kalkutta oder Patagonien aufzumachen –  und dann mit einem Tagebuch zurückzukommen, das niemand veröffentlicht.“(795/6) Alles in alllem war er ein bezaubernder, extravertierter Schlaumeier, der ein Held sein wollte und der in seinen Büchern vorwiegend die Geschichten anderer Leute erzählte. Neben Paul Theroux und Colin Thubron begründete die Reiseliteratur der ‚anderthalb Wahrheiten‘, die die Genregrenzen überschritt und im Interesse der Lesbarkeit Fiktion und Fakten vermischte. Er war immer zur rechten Zeit am rechten Ort, und auch der Umstand, dass er ebenso wie Che Guevara blendend aussah, half ihm auf dem Weg zur modernen Ikone.

Was das vorliegende Buch betrifft, so handelt es sich meiner Meinung nach um eine der besten Literaturbiografien der letzten Jahre, deren Breite durch die Ausweitung ihres Gegenstandes voll gerechtfertigt ist, denn „Bruce Chatwin“ ist nicht nur eine Biografie sondern eine veritable Kulturgeschichte der Siebziger und Achtziger Jahre, einfühlsam und mit Sympathie verfasst, ohne dass sie die nötige Distanz vermissen lässt.

 

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