Sieferle: Finis Germania

Sieferle_Ein Gespenst geht um im Bücherwald. Rolf Peter Sieferles „Finis Germania“, ein Buch, das auf No. 1 der Bestseller Liste von Amazon steht, zugleich geächteter Bestandteil der NDR Bestsellerliste, über das ganze Kübel  von Infamie und Herabsetzung ausgeschüttet wurden. Und das, ohne dass der Inhalt des Buches überhaupt in einer der großen Mainstreamzeitungen rezensiert worden wäre. Das soll an dieser Stelle geschehen.

Das Buch kommt als ein kleines, schön aufgemachtes Büchlein mit nur 104 Seiten daher und gliedert sich in vier Teile: „Finis Germania“, „Paradoxien der Zeit“, „Mythos VB“, „Fragmente“. Weder diese vier Kapitel noch der Gesamtzusammenhang können als eine stringente wissenschaftliche Abhandlung im klassischen Sinne eingestuft werden. Es handelt sich eher um einen lockeren, sehr frei assoziierenden Essay, eine Mischung zwischen Aphorismensammlung, Reflexion und Theorie, deren Grundannahmen von verschiedenen Seiten immer neu angedacht und ergänzt werden.  Insgesamt laufen sie auf folgende Denkbewegung heraus:

Die These vom deutschen Sonderweg ist für Sieferle nicht anderes als eine defensive Antwort der Modernisierungstheorie auf die Exzesse des 20. Jahrhunderts. Das Projekt der Moderne, die  moralische Höherentwicklung der Menschheit im Gleichklang mit ihrer erweiterten technischen Effektivität, war nach den Weltkriegen, nach Gulag und Judenvernichtung, krachend widerlegt. Um dieser Widerlegung wieder aus der Welt zu eskamontieren, entstand die These vom barbarischen Sonderweg eines Volkes, dass sich schon lange vor Hitler vom Heilspfad des universalistischen  Relativismus  abgekoppelt hatte. Auf den ersten Blick befremdlich ist, dass Sieferle in diesem Zusammenhang Deutschen gleichermaßen als „auserwählte Völker“ bezeichnet – die ersteren als „teuflisches“ Tätervolk, dessen Schuld wie bei der Erbsünde von Generation zu Generation weitergegeben wird und niemals entsühnt werden kann – und die Juden als Opfervolk. Während die Juden noch immer auf den Messias hoffen dürfen, ist die  Erlösung für die Deutschen für alle Zeiten ausgeschlossen.  Wurde früher im Antisemitismus alles Übel der Welt den Juden angekreidet, kristallisiert sich heute alles Negative, verabscheuungswürdige in der deutschen Vergangenheit und aktuell im sogenannten „Nazi“ –  als der jeder gilt, der die These vom deutschen Sonderweg bestreitet. Im Unterschied zu den Juden, die sich die negativen Zuschreibungen ihrer selbst niemals zu eigen gemacht haben, rechnen es sich die aktuellen und durchdomestizierten Deutschen allerdings zur Ehre an, sie gerne und voller Schuldstolz als Selbstbild anzunehmen. Die Erinnerung an die Gräueltaten von Auschwitz ist in den Rang eines Staatsmythos aufgestiegen, der in ermüdender Regelmäßigkeit von Politik und  Presse, von Kunst und Medien  völlig informationsleer und rein rituell beschworen wird. Wie leicht dabei was schiefgehen kann, zeigt Sieferle am Beispiel des Jenninger- Skandals. Bundestagspräsident Jenninger hatte in seiner Reichspogromnacht-Rede den Fehler begangen, anstelle informationsleerer Beschwörungen eine informationshaltigen Interpretationsversuch zu liefern,  was sofort als Relativierung/Verharmlosung aufgefasst wurde.  Denn „Du sollst keinen Holocaust neben mir haben“ ist inzwischen zur Staatsmaxime geworden, jedes Vergleichen und  Relativieren gilt als Ketzerei.   Innerweltliche „Priester“, gemeint sind Journalisten und sogenannte Großdenker, reagieren sofort auf solche Abweichungen. Ihre Herrschaft über die veröffentlichte Meinung gleicht dem eines „Wächterrates“ und ist  mittlerweile nahezu absolut.

Dieser Prozess der Verkrüppelung und Vernichtung der deutschen Identität vollzieht sich innerhalb eines zweiten epochalen Prozesses, der Heraufkunft des universalistischen Relativismus, der als „Modernisierung“ die ganze westliche Welt (also nicht nur Deutschland) erfasst. Seine Voraussetzung ist die Zerstörung der Familie, wie sie Sieferle auf S. 56 und 57 sehr eindringlich beschreibt. Als allgemeine Zeitsignatur besitzt der Ausschwitz-Mythos für die darauf aufbauende herrschende Antifa-Ideologie innerhalb des universalistischen Relativismus den Wert eines absoluten Negativums, von der aus die eigene wertleere Identität eine allerdings negative Konturierung. erfährt. Am Ende dieser Entwicklung steht die Auflösung der Völker (also nicht nur des deutschen) in eine entpersönlichte  atomisierte planetarische Massengesellschaft.  Politiker, die „aus dem kulturellen Nichts kommen“, können und wollen diesen Prozess nicht aufhalten  Die Wählerschaft bzw. die Bevölkerung nimmt diesen Prozess überhaupt nicht wahr. Sie ist vom sozialdemokratischen Virus des „Ärgernisses an jeglicher Differenz“ infiziert und verharrt in Abhängigkeit vom Staat einer „nährenden Mutter“. Als Ganzes gleicht die Wählerschaft nicht einer Gemeinschaft mündiger Bürger, sondern einer „Hühnerherde“ mit ankonditionierten Panikreaktionen. In diesem Kontext erscheint das einzelne Individuum als bejammernswertes Objekt multipler Manipulationen. Seine Erziehung zur Lustmaximierung entpuppt sich vor diesem Hintergrund als eine Erziehung zu maximaler  Schmerzvermeidung, sprich: extremer Angstanfäligkeit.

Allerdings, das merkt Sieferle an verschiedenen Stellen seines Essays an, sieht sich der universalistische Relativismus im planetarischen Rahmen alternativen Modellen gegenüber. Entgegen seinem eigenen Selbstverständnis – der unbedingten Zusammengehörigkeit von technischer Rationalität und grenzenlosen Individualität – zeigen asiatische Gesellschaften wie etwa Japan,  dass technische Rationalität (sprich: Effektivität) durchaus mit  einer sich aus  der Tradition speisenden Gemeinwohlorientierung vereinbar ist. Dass diese Gemeinwohlorientierung aber nur innerhalb begrenzter Kontexte, meist nationalstaatlicher Art möglich ist, macht diese Alternativen für  westliche Kommentatoren so verdächtig. Am Ende bleibt für den Westen ein pessimistischer, fast apokalyptischer Befund. Nach dem vollständigen Sieg des  universalistischen Relativismus wartet der  Naturzustand (der ja auch am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft stand). Oder in den Worten des Autors: “Nachdem das Aas des Leviathan verzehrt ist, gehen die Würmer einander an den Kragen.“

Alles in allem beschäftigt sich Sieferle  also mit zwei parallelen Bewegungen, die sich in ihrer Struktur und Entstehung aufeinander beziehen:

  • der Implementierung des Auschwitz-Mythos als innerweltlicher Religion und seiner geschichtlichen Herleitung aus dem sogenannten „deutschen Sonderweg“ – motiviert als Versuch einer  Immunisierung gegen die Widerlegung des Modernisierungsprojektes, wie sie schon von Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“, angedacht wurde.
  • Der Heraufkunft und dem Triumph des universalistischen Relativismus als höchstes Stadium der hypertrophierten Egalität nach dem Untergang der klassischen Familie (mit dem Hinweis auf die größere Zukunftsfähigkeit asiatischer Modelle)
  • Im Extremfall mündet der universalistische Relativismus im allmählichen Aufgehen aller Völker in einer Art Gesamtmenschheit. Auch die Deutschen verschwinden in diesem atomisierten Milliardenkollektiv, nachdem sie sich von ihrem konkreten, für immer sündenbehafteten Nationalkörper befreit haben. Doch auch wenn sie verschwunden sind,  bleibt die Erinnerung an die im Deutschen Namen begangenen Untaten als absolutes Negativum der quasireligiöse Bezugspunkt des universalistischen Relativismus gegenwärtig.

Ein bitterer Befund, der mich zu einem Einwand motiviert. Sieferle weist selbst darauf hin, wie offen die Geschichte ist und wie wenig sie Teleologien folgt. Deswegen ist auch der Sieg des universalistischen Relativismus keineswegs ausgemacht, auch wenn wir immer aufs Neue zu Zeugen seiner Triumphe werden (etwa: „Ehe für alle“).  Was bei Sieferle in Gestalt dieses Begriffes eine wenig wie das „Ende der Geschichte“ daherkommt, ist in meiner Sichtweise nichts weiter als ein extrem ausgeprägtes Stadium der Dekadenz, wie es weder Spengler noch Toynbee überrascht hätte.  Gerade die Konfrontation mit den zukunftsträchtigeren Gesellschaftsmodellen Asiens und vor allem mit den rüden Lebensformen des Orients, wie sie sich bei uns ausbreiten, wird zu einer Gegenbewegung führen. Ihre Chancen, das will ich zugeben, sind auf dem bundesdeutschen „Hühnerhof“ nicht gut. Aber ausgemacht, dass Widerstand zwecklos ist, ist es noch lange nicht.

Ein Wort zur formalen Qualität des Buches. Die Diktion des Textes ist von der ersten bis zur letzten Seite poetisch und ergreifend. Man spürt, dass hier ein Autor  jedes Wort, das er schreibt, unter Schmerzen geboren hat – weltenweit entfernt von der Beliebigkeit gegenwärtiger Zeitgeistkommentatoren, deren Namen wir an dieser Stelle nicht erwähnen wollen.   Vieles von dem, was Sieferle schreibt, wurde zwar schon andernorts geäußert (etwa von Martin Walser über die „Auschwitzkeule“), doch die Zusammenschau der disparaten Elemente,  die außerordentliche Abstraktion und damit auch Reichweite des Blicks und die sprachliche Brillanz wirken so, als würden plötzlich und überraschend die bislang verwirrenden Grundkonturen der Gegenwart sichtbar. Mit einem Ruck wird die Signatur der Zeit enthüllt und anstelle der Pallas Athene erscheint der hässliche Zwerg Zinober vor aller Augen. Insofern sind die hysterischen Reaktionen der etablierten Akteure verständlich, wenngleich nicht weniger infam.  Im Grunde sind sie der beste Beweis für die Richtigkeit der Beobachtungen.

Sieferle hat diese Hysterie vorausgesehen und seinen Text ausdrücklich für eine Veröffentlichung erst nach seinem Tode vorgesehen, denn der  Untergang Deutschlands war für Sieferle ohnehin bereits unwiderruflich ins Werk gesetzt. Wie sehr er daran gelitten hat, kann man nur erahnen. Seine Anmerkungen zu Jüngers „Waldgang“ deuten in diese Richtung. Ob sein Freitod im September 2016 mit dieser Einsicht zusammenhing, bleibt unklar. Auf jeden Fall war er stürzender Ikarus, der selbst im Fallen noch die Augen offen hielt.

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