Sinha: Erschlagt die Armen

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Dieses Buch einer jungen französisch-indischen Autorin ist das Buch der Stunde. Mit einer sprachlichen Wucht, die ihresgleichen sucht, aber auch mit  einer inhaltlichen Prägnanz, die fast beängstigt,  nimmt sich Shumona Sinha eines Themas an, um das die meisten ernstzunehmenden Literaten noch immer einen weiten Bogen machen: der orientalisch-europäischen Völkerverschiebung, die gerade ein Gang gekommen ist und die den alten Kontinent, zuvörderst Deutschland, so stark verändern wird, wie noch nie in der Geschichte.  Und zwar nicht in Gestalt eines politischen Pamphletes, sondern literarisch, indem sie  die Friktionen, die diese Wanderungen bei den Betroffenen hervorruft,  als Veränderungen an konkreten Menschen sichtbar macht. Es handelt sich um Literatur im besten Sinne, weil die Autorin bündige Antworten verweigert, das Problems aber so klar und deutlich präsentiert, dass sich kein Leser, der noch alle Tassen im Schrank hat, sich um eine eigene Stellungnahme drücken kann. Darin unterscheidet sich das Buch deutlich, von der gängigen Flüchtlingsliteratur a la Erpenbeck „Gehen, ging, gegangen“, die die gesamte Problematik einfach nur halbiert, mit einer eindeutigen moralischen Garnierung versieht und dafür auch noch gefeiert wird.

Bei Sinha dagegen  ist nichts moralisch eindeutig. So zerrissen wie die Situation ist auch die Hauptfigur, nicht unbedingt sympathisch, aber gequält wie ein Wesen im Schraubstock sozialer Strukturen und individueller Eigenheiten.  Die  Handlung des  Buches ist schon so oft erzählt worden, dass es genügt, sie hier nur kurz zu benennen: eine Dolmetscherin in einer französischen Integrationsbehörde, die von den inszenierten Lügengeschichten der Asylbewerber angewidert ist, schlägt einem Migranten, der sie in der U-Bahn  attackiert, eine Flasche über den Kopf und wird verhaftet.  Einem Polizeibeamten gegenüber versucht sie, die  Motive und die Vorgeschichte ihrer Tat zu erklären. Dieser Erklärungsversuch, der ihren Werdegang, ihre Eltern, ihre Sexualität und ihre  Erfahrungen mit Migranten umfasst, bildet den Schwerpunkt des Buches.

Das erste, was dem Leser dabei präsentiert wird,  ist die Verlogenheit des 5 (01)aktuellen Einwan-derungssystems. Da kein Land der Welt ungesteuerte Massenmigration vorsieht (Übrigens auch Deutschland nicht), ist eine Zuwanderung nur unter Zuhilfenahme einer rechtlichen „Krücke“ möglich, d. h. die Zuwanderer müssen sich als politisch verfolgte Asylanten ausgeben. Sie müssen lügen, dass sich die Balken biegen, während die  Behördenmitarbeiter auf der anderen Seite versuchen müssen, diese Lügen aufzudecken.  Fast ist man erschrocken über die Härte und Konsequenz, mit der die Sachbearbeiterin und die Dolmetscherin die Flunkereien der Migranten aufdecken.   Ist das denn nicht unmenschlich? werden viele Leser an dieser Stelle fragen.  Haben denn die Migranten am Ende ihres langen Weges nicht jedes Mitgefühl verdient anstatt ihnen Lug und Trug zu unterstellen? Dreimal ja, wenn man das Problem allein unter mitmenschlichen Gesichtspunkten sieht.  Aber dreimal nein, wenn man die Angestellten der Einwanderungsbehörde  als Sachwalter des französischen Einwanderungsrechts betrachtet,  das genau das vorschreibt. Man mag dieses Recht loben oder es als unmenschlich verdammen, aber es ist das Recht der Republik, an das sich die a8 (04)öffentlichen Amtsträger zu halten haben. Und wenn sie es tun, d.h. wenn sie es sich nicht so einfach machen, sich als „Avatare von Mutter Theresa“ zu gebärden und alles durchzuwinken, wird das politisch-moralische Problem der derzeitigen Massenmigration in kaum zu überbietender Klarheit sichtbar. Und perpetuiert sich in den psychologischen Konflikten, Obsessionen oder Trugbildern, die die Hauptperson durchlebt. Denn die Protagonistin ist selbst Zuwanderin aus Bangladesch und hat alles getan, dieses Land und seine frauenverachtenden Usancen weit hinter sich gelassen, einschließlich ihrer Eltern, für die sie  in einer befremdlich anmutenden Szene nur Ablehnung und Verachtung mobilisiert. Nur nebenbei bemerkt: ein Teil der zustimmenden Rezeption dieses Buche verdankt sich der Interpretation, dass sich die Protagonistin des Romans gegen die Männer auflehne, gegen die französischen ebenso wie gegen die zuwanderungswilligen Landsleute. Ich halte das für ein sachlich nicht gerechtfertigtes Feminismus-Dressing, die das Buch gar nicht nötig hat, denn die mit Abstand unsympathischste Figur des Buches, die Anwältin, die  im Interesse ihrer Mandanten die Angestellten der Einwanderungsbehörde aggressiv unter Druck  setzt, ist eine Frau. Dass die Dolmetscherin in Gestalt der „Lehmleute“, den „ungeliebten Quallen, die sich an fremde Ufer werfen“,  den frauenverachtenden Einstellungen wieder begegnet, vor denen sie aus Bangladesch geflohen war, impliziert aber eine andere bittere Wahrheit, die in der gegenwärtigen Diskussion so gut es geht ausgeblendet wird, nämlich das Faktum, dass  die massenhafte Zuwanderung von Drittweltmigranten in ein gelobtes Land dieses Land über kurz oder lang so verwandeln wird, dass es immer mehr den Ländern gleichen wird, aus denen die Leute geflohen sind.

Am Ende münden all diese Unstimmigkeiten, verbunden mit den persönlichen Unzulänglichkeiten der Protagonistin in den bereits geschilderten Übergriff gegen einen Migranten in der Pariser UBahn.  Herr K., der gesichts- und gestaltlose Polizist, hört sich die Schilderungen der Protagonistin an, ohne dass man wüsste, welches Bild er sich macht. Das braucht man auch nicht zu wissen, denn der Leser selbst ist niemand anders als Herr K, der die Geschichte hört und sich selbst sein Urteil bildet.

Aber welche Folgerungen ergeben sich aus dieser Wirklichkeitsbeschreibung? Die Autorin hat keine Lösungen anzubieten, aber dem Leser, der das Buch gelesen hat  und weiterdenkt, fallen nur  zwei Alternativen ein, diesen unwürdigen bürokratischen Zustand zu beenden. Entweder man entgrenzt den Asylparagrafen, so dass man jedem, der sich in einer wie immer auch gearteten Notlage befindet, das Recht auf  Einwanderung in ein Land seiner Wahl zuspricht. Damit wäre der peinigenden Recherche im Lebensschicksal der  Einwanderungswilligen die Grundlage entzogen. Allerdings um den Preis der Veränderung des gesamten Staats- und Gesellschaftsaufbaus mit unabsehbaren Folgen.  Oder – nicht minder radikal –  man schafft das missbrauchte  Asylrecht,  das Schlupfloch der Millionen, in der geltenden Form einfach ab. Dann gibt es keine Zuwanderung mehr mit Ausnahme, der vom Empfängerland ausdrücklich gewünschten. Das bedeutet aber auch, dass der Staat, wenn es hart  auf hart kommt, seine Grenzen mit Armee und Zäumen schützen muss. Das inszenierte Aufjaulen der veröffentlichten Meinung über die AfD, die genau auf diesen Sachverhalt hingewiesen hat, zeigt mehr als alles andere die  Verlogenheit, mit der die Debatte geführt wird.  Beide „Lösungen“, sowohl die „ungarische“  wie die  „deutsche“ wie haben etwas Bizarres, aber auf einen der beiden Wege wird es hinauslaufen. Ein verantwortungsloses Weiterwursten wie bisher wird auf die Dauer nicht möglich sein. auch wenn sich Deutschland zur Zeit bemührt, die Türkei für viel Geld die Drecksarbeit machen zu lassen.

Den Blick endlich ernsthaft auf diesen Problemhorizont jenseits von Willkommenskultur und Überfremdungsängsten gelenkt zu haben, ist das herausragende Verdient dieses Buches, das sich im Übrigen jeder weltanschaulichen Einordnung entzieht.

 

 

 

 

 

 

 

 

2 Gedanken zu „Sinha: Erschlagt die Armen“

  1. Kann ich gut verstehen, -das Buch ist durch und durch fremdenfeindlich. Mit ein wenig Feminismus-
    Dressing verpackt, damit die man auch darüber reden kann. Verlogener Mist!
    Rita Schnutz, Koblenz

  2. In unserem Lesekreis wurde das Buch besprochen. Schon bei der Auswahl gab es heftige Kritik von eher links stehenden Mitgliedern. Man kündigte an, dass man sich weigere, über die Konsequenzen, die das Buch nahelegt, reden zu wollen. Die Diskussion selbst war extrem unergiebgig weil nur über die Sprache geredet wurde.Jeder Ansatz zur Diskussion der poitischen Implikationen, die das Buch nahelegt, wurde sofort unterbunden.
    Lothar Klabutke, Göttingen

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