Bografien sollten als eine eigene literarische Kunstform nobilitiert werden, fordert Rainer Stach in der Einleitung zu seiner monumentalen Kafka Biografie. Auch wenn es dies im Hinblick auf die großen Joyce- oder Goethe-Biografien formuliert, hängt er damit bewusst die Latte für sein eigenes Werk recht hoch. Stach will erzählen, nicht nur, wie es gewesen ist, sondern so, dass der Leser das Erzählte nacherleben und in der Lebenswelt des Portraitieren heimisch werden kann, ein Anspruch, der profunde literaturwissenschaftliche Sachkenntnis ebenso voraussetzt wie schriftstellerisches Können und eine ausgeprägte hermeneutische Begabung.
Dafür, dass die Biografie erst im Jahre 1910, und nicht 1883, in Kafkas Geburtsjahr, beginnt, hat objektgeschichtliche Gründe. Im Grunde wird nach Meinung des Biografen der Autor Kafka in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg erst „geboren“, in ihnen durchlebt er „die Jahre der Entscheidung“, die aus ihm einen Literaten machen. Dementsprechend geht der Autor gleich in medias res, indem er seinen Protagonisten im Umkreis seiner Freunde und seiner Familie darstellt, einen großgewachsenen, sehr höflichen, sehr zurückhaltenden jungen Mann, der in einer Unfallversicherungsanstalt eine gute Stellung innehat und sich in der hellhörigen und engen elterlichen Wohnung in der Nacht an eigenen Texten versucht. Seine ersten kleinen Veröffentlichungen wie „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“ oder „Vorbereitungen eines Kampfes“ finden keinerlei Resonanz, aber das irritiert ihn nicht, denn er ist sich seines Könnens sicher, auch wenn ihm die eigene Perfektibilität im Wege steht. Allerdings stehen diese literarischen Neigungen von Anfang an im Konflikt mit den Intentionen des Vaters Hermann Kafka, der ein Ausstattungsgeschäft in der Altstadt von Prag betreibt und die ganze Familie für dieses Geschäft einspannt. Die ganze Familie, das sind außer dem Vater und dem Sohn die Mutter, aus deren Erbschaft dereinst das Geschäft gegründet wurde, und die drei Schwestern. Sie alle wohnen zusammen mit einem Dienstmädchen in einer beengten Wohnung in Prag. Die erste Krise setzt ein, als eine Asbestfertigung, eine geschäftliche Investition, mit der Herman Kafka dem Ehegatten seiner ältesten Tochter auf die Beine helfen wollte, in Turbulenzen gerät, nicht ohne, dass Franz Kafka, der sich in diesem Geschäft hätte engagieren sollen, an diesen Problemen aus Desinteresse mitschuldig wird.
Kafka lernt eine jüdische Schaustellergruppe in Prag kennen und begegnet zum ersten Mal Gestalten wie Jitschak Löwy, die später als „kafkasek“ bezeichnet werden sollen. Er beobachtet den kometenhaften Aufstieg des jungen Franz Werfel und reist mit seinem Freund Max Brod nach Leipzig, wo er die Verleger Rowohlt und Wolf trifft, bei denen er unterkommt. Derweil kämpft Kafka um eine tragfähige Form für seinen literarischen Ausdruck. Im Unterschied zu seinem Freunde Max Brod. Den Kafka in Verdacht hat, „zu unkritisch“ gegenüber seinen Texten zu sein, ist Kafka selbst „hyperkritisch“. Nur unter allergrößten Mühen und Bedenken und dank Brods massivem Druck kommt eine erste Veröffentlichung bei Rowohlt in Leipzig zustande.
Dann ereignet sich am 13. August 1912 ein Moment der Erschütterung, den der Autor allen Ernstes mit anderen Sternstunden der Literatur vergleicht: mit Rousseaus Erleuchtung 1749, „mit der ersten Begegnung Hölderlins mit Susette Gontard, mit dem Aufdämmern der Idee einer »ewigen Wiederkunft des Gleichen« im Gehirn Nietzsches während einer Wanderung am See von Silvaplana oder Valérys Abschied von der Literatur in der Genueser Gewitternacht vom 4.Oktober 1892.“
Es handelt sich um Kafkas Begegnung mit der jungen Angestellten Felice Bauer, in deren Gestalt Kafka den ganzen Saft seiner unbefriedigten Triebe und Sehnsüchte pumpt, um kurz darauf sein erstes „Meisterwerk“ zu schaffen, „DAS URTEIL“, in dem der ganze Kafka auf einen Schlag sichtbar wird. „Es war eine Eruption, die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht“, begeistert isch Stac. „Mit einem Schlag, scheinbar geschichts- und voraussetzungslos, war der Kafka-Kosmos präsent, schon vollständig möbliert mit jenem ›kafkaesken‹ Inventar, das dem Werk eine unverwechselbare serielle Einheit aufprägt: die übermächtige und zugleich ›schmutzige‹ Vater-Instanz, die ausgehöhlte Rationalität der Perspektivfigur, die Überlagerung des Alltags durch juridische Strukturen, die Traumlogik der Handlung und nicht zuletzt der den Erwartungen und Hoffnungen des Helden stets entgegengerichtete Sog des Erzählflusses.“
Dieses hohe Lob nahm ich zum Anlass, noch einmal die Erzählung „Das Urteil“ zu lesen „Das Urteil“ handelt von einem Sohn, der einem Freund in Petersburg von seiner bevorstehenden Hochzeit schrieben will und darüber mit seinem Vater in einen surrealen Disput gerät. Was mir gefiel, war die exakte, unterkühlte, hyperpräzise Sprache sowie das Aufscheinen eines ganz anderen Untergründigen, das plötzlich hervorbricht. Kafkas Sprache ist per se unkitschig, in dem sie immer auf das Furchtbare verweist – oder in den Worten des Autors: „eine Sprache wie polierter Marmor, deren Kühle niemals manieriert wirkt und die dennoch Dinge und Menschen wie unter Neonlicht überscharf hervortreten lässt.“
Mehrere Kapitel lang beschäftigt sich Stach in seiner Biografie anschließend mit dem fünfjährigen Briefwechsel Kafkas mit Felice Bauer zwischen 1912 bis 1917. Von Kafkas Seite wurden in dieser Zeit 400 Briefe von Prag nach Berlin geschrieben, (sie wurden von der Empfängerin zum Großteil im Jahre 1955 für 8.000 USD an einen amerikanischen Verlag verkauft). Die Briefe Felice Bauers wurden von Kafka vernichtet.
Obwohl Stach von Kafka als Briefautor ganz aus dem Häus´chen ist, ist für Heutige der selbstbezügliche und hochsublimierte Sermon in diesen Briefen schwer zu ertragen. Interessanter fand ich Stachs Auslassungen zum Briefeschreiben als Kulturphänomen. Denn der Brief ist nicht nur ein Medium der Mitteilung sondern der tagebuchartigen Selbstvergewisserung in den besonderen Grenzen seines Mitteilungscharakters. „Der Brief kann Ausdruck einer erschütterten, unsicheren Subjektivität sein, doch indem sie sich ausdrückt, ist sie schon etwas weniger unsicher. Das diffuse Ich, das um Fassung ringt, spiegelt sich im Brief und erkennt dort seine Konturen. Der Brief, der verzweifelte Leere ausdrückt, setzt etwas an deren Stelle.“ Und: „Tagebuchnotizen wie Briefe wirken auf den, der schreibt, in konstitutiver Weise zurück; sie sind Mittel der Selbststeuerung und Selbstformung und somit reflektierte meditative Techniken.“ Also: Diese Briefkultur , nicht zuletzt in der Form wie sie Thomas Mann, Hesse, Rilke und Kafka pflegten, repräsentiert ein kostbares Ausdrucksmittel bürgerlichen Welt, verschwindet allerdings nun am Ende der Gutenberg Epoche im kulturellen Orkus. Die Email lässt grüßen. Allerdings geht es mit dem Briefwechsel von Kafka und Bauer so, wie es mit vielen Briefwechseln zu gehen pflegt: sie werden von unbefugten Augen gelesen, die Familien geraten in Wallung und eine ungewollte Öffentlichkeit zerstört den selbstbezüglichen Raum der Innerlichkeit, den die beiden aufgebaut haben, vor allem nachdem sie zum „du“ gewechselt waren und eine Ehe implizit ins Auge gefasst worden war.
Zwischenbemerkung: Stachs Enthusiasmus für das unerhörte Genie Kafkas ist nicht immer nachvollziehbar, auch seine Vertiefung in jeden Kafka Halbsatz hat etwas Ermüdendes. Am besten ist der Biograf immer dort, wo er konkret Historisches nachzeichnet, wie etwa bei der Familiengeschichte der Bauers, einer jüdischen Familie zwischen Tradition und Moderne, die von sozialen Katastrophen nicht verschont blieb. „Fünf moralische Katastrophen bedrohten die bürgerliche Familie der wilhelminischen Ära: offene eheliche Untreue, voreheliche Schwangerschaft einer Tochter, Konflikte mit dem Strafrecht, gelebte Homosexualität und Selbstmord. Jedes dieser Ereignisse konnte für sich die Reputation einer Familie zerstören.“ Felices Vatter etwa, ein liberaler, freundlicher Mann, verließ seine Familie und lebte drei Jahre lang mit einer Gebieten in Berlin zusammen, bis diese Geliebte starb und der Vater in den Schoß der Familie zurückkehrte.
In dieser Zeit arbeitet Kafka an seinem Amerikaroman (im Rahmen eines strengen Tagesplanes, der ein Nachmittagsnickerchen vorsieht, damit bis tief in die Nacht gearbeitet werden kann) , was Stach Gelegenheit gibt, über das literarische Schaffen Kafkas zu spekulieren. Er stellt sich diesen Schaffensprozess so vor, dass sich in Kafka „Speicher füllen“, die aber zu ihrer Entladung äußerer Anstöße bedürfen. Tritt dieser Anstoß ein, dann entlädt er sich und alles ist zu Ende. Dieses Füllen und Entleeren der Speicher wird nach dem Modell von „Wellen“ begriffen. Leider reichen die Inhalte der „Speicher“ noch nicht hin für die Abfassung größere Werke. Nach einiger Zeit sind sie leer, und wenn Kafka an längeren Werken wie etwa am Amerikaroman arbeitet, gerät er in die gleichen Schwierigkeiten, die er an Dickens kritisiert, in ein „müdes Herumrühren „ in „Stellen grauenhafter Kraftlosigkeit“ und verwendet „Klötze roher Charakterisierung, die künstlich bei jedem Menschen eingetrieben werden.“ Und. „Nach mehr als anderthalb Jahrzehnten Erfahrung mit den undurchdringlichen Gesetzen des ›Schreibens‹ wusste Kafka, dass keineswegs nur Inspiration, sondern auch schiere psychische Energie, ja sogar eine Art von willentlicher Besessenheit vonnöten ist, um über Monate hinweg der einmal begonnenen Arbeit immer neue Leidenschaft und Konzentration abzugewinnen.“ „Das wirft entscheidendes Licht nicht auf den letzten Grund, wohl aber auf den Augenblick des Scheiterns: Es ist der Augenblick, in dem die technische Anstrengung das Schöpferische zu ersticken droht, es ist die Krise des Schöpferischen schlechthin“ schreibt Stach. „Mehrmals in seinem Leben ist Kafka bis zu diesem Punkt gelangt, über ihn hinaus jedoch niemals.“ So auch bei dem Amerika-Roman, den er 1913 aufgibt: »Mein Roman! Ich erklärte mich vorgestern abend vollständig von ihm besiegt. Er läuft mir auseinander, ich kann ihn nicht mehr umfassen. In der Paralleldarstellung der Briefbeziehung zu Felice Bauer und Kafkas Schreibversuchen kommt Stach auf die „Kontingenzen“ der persönlichen Lebensumstände zu sprechen, bei denen stets die Gefahr besteht, dass sie wie Unkraut von außen in den gepflegten Garten der Romankonstruktion hineinwuchern.
Auch hier habe ich parallel zur Biografie noch einmal in den Roman „Amerika“ hineingeschaut und war wenig begeistert. Jedem, der über Amerika etwas erfahren will, kann ich nur abraten, diesen Roman zu lesen. Jedem, der den eigenen Dämonen auf der Spur ist aber wohl. Insofern ein Romanprojekt mit dem falschen Gegenstand. Mich verließen an dieser Stelle des Werkes keine Dämonen sondern Interesse und Ausdauer. Ich machte eine Pause und lese demnächst weiter.