Stefan Zweig: Castellio gegen Calvin, Ein Gewissen gegen die Gewalt

Stefan Zweigs Buch führt den Leser  zurück in die turbulenten Gründungsjahre der europäischen Reformation, genauer gesagt, in die Stadt Genf, in der es nur ein Jahr nach den Wiedertäuferexzessen von Münster dem Prediger Calvin gelang, seine Variante der Reformation als herrschende Lehre zu etablieren. Dass damit nach gut calvinistischem Geist der Abschied von allen Lebensfreuden verbunden war, merkten die Bürger von Genf bald, so dass sie ihren Entschluss bereuten und den Prediger im Jahre 1538 wieder vor die Türe setzten – nur um ihn am 13. September des gleichen Jahres wieder demütig zurückzuholen, weil sich in seiner Abwesenheit Chaos und Liederlichkeit der Stadt bemächtigt hatten.

Diese Wankelmütigkeit der Menschen, ihre Sehnsicht nach Ordnung und Sinn auf der einen Seite, aber auch ihre Verfallenheit an die Sinnlichkeiten des Alltags und das damit  einhergehende schlechte Gewissen sind die Kräfte, aus der sich von nun Calvins Macht bis ins Unermessliche nähren soll. Aus dem ehemals so freiheitlichen Republik Genf wird das „neue Jerusalem des Protestantismus“, ein totalitärer Gottesstaat, der gegen jede Abweichung mit mörderischer Konsequenz vorgeht. Freie Bürger wie der hoch gebildete Humanist Castellio (1516-1563), die gegen diese Tyrannei rebellieren,  können von Glück sagen, dass sie mit der Verbannung aus der Stadt davonkommen.

Erheblich schlechter als Castellio ergeht es dagegen dem Theologen Michel Servet, der nur wenige Jahre nach Calvins epochaler „Insitutio“ seine „Resitutio“ vorlegt, eine Schrift, die sowohl die katholische Inquisition wie auch die reformierten Kirchen in Deutschland und der Schweiz entsetzt. Servets muss untertauchen und findet nach einigen abenteuerlichen Lebensetappen  unter falschem Namen eine Stellung als Leibarzt beim Bischof Palmier von Vienne. Kein Geringer als Calvin, der jedem Abweichler nach dem Leben trachtet, denunziert den Dissidenten beim katholischen Großinquisitor in Lyon. Als es dem gefangen genommenen Servet trotzdem gelingt, aus Frankreich zu fliehen, wird er auf der Durchreise in Genf festgenommen, auf Betreiben Calvins zum Tode verurteilt. und am 27. Oktober 1553 vor den Toren von Genf bei lebendigem Leibe verbrannt.

Dieser Mord an einem Abweichler wird  zur geistigen Wegscheide der europäischen Reformation.  Unter dem Pseudonym Martinus Bellius verfasst der inzwischen in Basel lebende Humanist Castellio eine Kampfschrift, in der er nachweist, dass „Ketzer“ einfach nur „Abweichler“ bedeutet und dass  auch Calvin selbst als Verfolgter in seiner „Institutio“ von Franz I  Toleranz gegen Abweichler gefordert habe. Leider kommt es zu keiner öffentlichen Auseinandersetzung der beiden Positionen, da es Calvin gelingt, die Drucklegung der Castellios Schriften über die Zensur zu verhindern. Bald tauchen die Agenten Calvins sogar in Basel auf, um einen Ketzerprozess gegen Castellio anzustrengen, da stirbt der Humanist völlig überraschend ( und wahrscheinlich zu seinem Glück ) im Jahre 1563 im Alter von nur 48 Jahren.

Wie geht die Geschichte weiter? Der für Calvin so peinliche Mord an Servet wird bald vergessen, und mit den Erfolgen der calvinistischen Mission in ganz Europa steigt der Finsterling aus Genf zur weltgeschichtlichen Figur auf, zu einem Weichensteller der Moderne, der sogar die Entstehung des Kapitalismus mit beeinflusst (S 219) –  aber auch zum Vorbild und Ahnherrn aller totalitären Charaktere des 20. Jahrhunderts. Und was wurde aus Castellio? Kamen seine Ideen zu früh, so dass er nichts bleibt als eine halb vergessene Fußnote der Geistesgeschichte? Nein, antwortet Stefan Zweig, denn es dauerte nur ein halbes Jahrhundert, bis  holländische Remonstranten, die als Abweichler innerhalb des Calvinismus agierten, Castellios Schriften wieder entdeckten und im Jahre 1612 eine erste Gesamtausgabe seiner Werke herausgaben. So hat Castellio, wenn schon nicht gesiegt, so sich doch posthum wenigstens behauptet, auch wenn der Ruhm, Vordenker der Toleranz zu sein, an Descartes, Locke und Hume geht. Wen dieses 16. Jahrhundert, die  stürmische Overtürenzeit der Moderne, in der Totalitarismus und Toleranz geboren wurden, dem empfehle ich das exzellente Sachbuch „Das geteilte Europa 1559-1598“ von J. H. Elliot  und  (mit Einschränkungen) den derzeit hoch gelobten Roman „Feuertäufer“ des jungen spanischen Autors Antonio Orejedo.

Kommentar verfassen