„Rot und Schwarz“, der psychologische Meisterroman aus der Zeit der französischen Restauration gilt als eines der ganz großen Werke der Weltliteratur. Nietzsche, Goethe und Flaubert haben sich darüber anerkennend geäußert. Was kann da noch schief gehen dachte ich, als ich mich während der Karnevalstrage 2008 in dieses Werk vergrub.
Ich merkte schnell: Es geht um Karriere, um Macht und Neid, um Liebe in alle ihren Varianten– aber um eines geht es nicht: um liebenswerte Menschen. Die Figuren des vorliegenden Romans sind mit ganz wenigen Ausnahmen Widerlinge und Kanaillen, und sie werden vom Auto dem Leser auch als solche präsentiert. Wer will mag darin, eine stilistische Innovation erkennen: ein Autor, der seine Geschöpfe vor seinen Lesern denunziert.
Kein Wunder, dass Julien Sorel, die Hauptfigur des Romans, ein Unsympath ganz besonderer Art ist. Sorel, ein Bauernsohn aus der Provinz, besitzt kein anderes Lebensziel als seinem einfachen Stand durch Verstellung und Dauerbückling zu entkommen. Seine Vorzüge sind eine Art Telefonbuchgedächtnis, ein leidliches Aussehen und ein übermäßiger Stolz, den er seiner Umwelt edle Wesensart verkauft In der Obhut eines Geistlichen lernt er schon als Bauernlümmel ein wenig Latein, was ihm die Stellung eines Hauslehrers bei Baron de Renal in Verrieres einbringt. Nachdem er dessen Gattin verführt hat, wechselt er in das Priesterseminar nach Besancon, wo er trotz seiner schroffen Wesensart so viele Gönner findet, dass es ihn er zu guter Letzt als Verwalter an die Seite des Marquis de la Mole nach Paris verschlägt. So geht es immer weiter aufwärts mit „unserem Helden“, wie Stendhal seinen Protagonisten ein wenig altväterlich apostrophiert, bis es ihm schließlich sogar mit Hilfe russischer Liebesbriefe und unter Einsatz einer alten Marschallin gelingt, das kapriziöse und vollkommen durchgeknallte Fräulein de la Mole zu bezirzen. Man befürchtet bereits ein Happyend a la „Bel Ami“, als dann das Unglück doch noch zuschlägt, und der bislang so beherrschte Julien, von einem vermeintlichen Brief seiner alten Geliebten Madame de Renal bloßgestellt, die Dame niederschießt, was ihn zuerst in den Kerker und dann – da er jede Gnade ablehnt – schließlich sogar auf das Schafott bringt.
So weit die Handlung dieses Romans, der mich ein wenig ratlos zurückließ. Na gut, dachte ich, große Romans sind nun einmal wie große Rätsel, doch das größte Rätsel bei dem vorliegenden Roman war für mich, warum er groß sein soll. Die Handlung kann es nicht sein, denn was sich in der Zusammenfassung noch einigermaßen inhaltsreich anhört, plätschert im Original über Hunderte von Seiten wie ein endloser Wattenpriel dahin. Die Charaktere sind nach einem psychologischen Legobaukasten zurechtgebastelt – wie von Stromschlägen gepiesackte Zitteraale werden sie permanent von ihren Launen gepeinigt – aber ist es wirklich „subtil“, all diese voraussehbaren Liebeskapereien dem Leser immer aufs neue aufs Butterbrot zu schmieren? Ist es „kongenial“, wenn es dem Autor gelingt, in Szenen, in denen sich Julien in den adligen Salons zu Tode langweilt, auch den Leser bis an den Rand des Tiefschlafs zu trieben? Lohnt die Lektüre etwa aus historischem Interesse? Über die Gesellschaft der Restauration zwischen 1815 bis 1830 erfährt man nicht sonderlich viel, außer dass sie dem Autor herzlich zuwider ist. Gibt es stilistische Offenbarungen? Mitnichten. Stendhal erzählt wie ein Oberlehrer, legt den Finger immer auf das Offensichtliche und lässt es sich nicht nehmen, den Leser mit seinen Erläuterungen permanent zu belästigen.
Am interessantesten fand ich noch die Liebesgeschichten, die Julien zuerst mit Madame de Renal, dann mit Mathilde verbindet – emotional, ehrlich, gutgläubig und provinziell die eine – kapriziös, grausam, gelangweilt, die andere. Doch wer erwartet hätte, dass diese Entgegensetzung literarisch fruchtbar gemacht würde, irrt. So wie Julien konzipiert ist, kann er überhaupt nicht lieben, er erobert nur, um des Erobern willen und wundert sich anschließend darüber, dass er von den Gefühlen, die er evozierte, selbst auch noch in Mitleidenschaft gezogen wird. Falls Stendhal dieses Abziehbild der Liebe zeigen wollte, ist es ihm zweifellos geglückt.
Vollkommen verunglückt aber ist der Schluss, bei dem der Roman zur Moritat verkommt. Madame Renal, vom Leser längst vergessen, springt plötzlich wieder aus der Kiste, Julien, der Eiskalte und Beherrschte wechselt den Charakter, schießt seine ehemalige Geliebte zuerst nieder um alsdann in tätiger Reue auf Flucht und Rettung zu verzichten.
So schließt man am Ende ganz ratlos das Buch. „Wie, das soll alles gewesen sein? „ fragt sich Julien nach seiner ersten Liebesnacht mit Madame de Renal – eine Frage, die man am Ende der Lektüre auch an das Buch als Ganzes stellen könnte.