Es ist ein Vorurteil dass jeder Mensch, nur weil er lesen kann, auch jedes Buch verstehen kann, hat Arno Schmidt einmal gesagt. Es ist ebenso ein Vorurteil, dass ein Roman unbedingt Vergnügen bereiten muss, schrieb Georg Lukacz. Aber es kommt noch dicker. Ein Roman muss sich mir entziehen, wenn er mir etwas sagen will, behauptete Adorno. Mit einem Wort: ein wirklich ernst zu nehmender Roman ist immer eine Zumutung.
Wie man mit einer solchen „Zumutung“ umgeht, gehört zu den Grundfragen der Literaturkritik. Goethe hat in seinem Spätwerk dazu zwei Methoden unterschieden: die „zerstörerische“ und die „produktive“ Kritik. „Zerstörerisch“ ist ein Kritiker, wenn er seine Urteilsmaßstäbe dem Werk von außen überstülpt. Dabei verhalten sich Kritik und Werk wie Rahmen und Bild. Wenn das Bild nicht zum Rahmen passt, ist es nichts wert.
Die Literaturgeschichte ist voller Beispiele für zerstörerische Kritik. Was Romane betrifft, so gleicht die Liste der auf diese Weise niederrezensierten Bücher einem who´s who der Literaturgeschichte, beginnend mit Flauberts „Madame Bovari“, Henri Millers „Tage in Clichy“ bis zur „Blechtrommel“ von Günter Grass. Ihr neuestes Opfer ist der Dresdner Autor Uwe Tellkamp. Sein lang erwarteter Roman „Der Schlaf in den Uhren“ war noch keine Woche auf dem Markt, da war bereits eine ganze Batterie von Totalverrissen über das Buch hereingebrochen, wobei diesmal, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die zerstörerische Kritik geradezu in Reinkultur auftrat: als moralisches Fallbeil, das mit dem Werk kurzen Prozess machte.
Die „produktive“ Kritik, so wie sie Goethe versteht, geht behutsamer zu Werke. Sie fragt: „Was hat sich der Autor vorgesetzt? Ist dieser Vorsatz vernünftig und verständig? Und inwiefern ist es gelungen, ihn auszuführen?“ Eine Rezension in diesem Sinne fragt zunächst nach dem Kontext und der Ambition des Werkes, dann nach der literarischen Umsetzung, ehe sie ein Urteil fällt.
„Der Schlaf in den Uhren“ ist die schon seit langem erwartete Fortsetzung von Tellkamps Erfolgsroman „Der Turm“, in dem der damals noch junge Autor 2008 die letzten Jahre der untergehenden DDR als opulenter Gesellschaftsroman beschrieb. Dieses epische Großprojekt vereinte alles, was Leser lieben: blutvolle und glaubhafte Charaktere, eine mitreißende Handlung, die um Ethik, Macht und Liebe kreist – und die dramatische Kulisse eines Epochenbruchs. Es katapultierte den damals gerade mal 40jährigen Autor in die erste Reihe deutschsprachiger Schriftsteller und brachte ihm zahlreiche Preise ein. Kein Wunder, dass das Publikum seit fünfzehn Jahren auf die Fortsetzung des „Turms“ wartete.
Aber warum so lange? Möglicherweise dauerte es so lange, weil sich während Tellkamps Arbeit am neuen Roman sein Gegenstand, die wiedervereinigte Bundesrepublik, tiefgreifend verwandelte. Der Autor Tellkamp glich einem Maler, der sich an einem Portrait versucht, dessen Modell sich beim Malen verändert. Höhepunkt dieser politischen und gesellschaftlichen Veränderung war die „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015, als es der Regierung im Verein mit einer staatsaffinen Presse gelang, eine Massenzuwanderung hunderttausender, überwiegend junger muslimischer Männer gegenüber einer in Schockstarre verharrenden indigenen Bevölkerung durchzusetzen. In den Augen vieler Kritiker bis weit in die Mitte des politischen Spektrums hinein gewann dabei die bis dato so erfolgreiche bundesrepublikanische Demokratie autoritäre, obrigkeitsstaatliche Züge, die an die untergegangene DDR erinnerten. In dieser Situation ist Tellkamps Roman, der dazu ansetzt, die Tiefenstruktur des politisch-medialen Komplexes und ihre Verzahnung mit den Reststrukturen der untergegangen DDR mit literarischen Mitteln darzustellen, das Buch der Stunde.
So weit, so ambitioniert. Wie aber wird dieses Programm umgesetzt? Auf jeden Fall nicht so, wie es das Publikum nach dem „Turm“ erwartet hätte. Der „Schlaf in den Uhren“ ist kein klassischer Roman mit Anfang und Ende, linearer Handlungsführung und wenigen Hauptpersonen, sondern eine komplexe literarische Collage aus zwei Zeitebenen und einer kaum überschaubaren Zahl von Figuren.
Im Mittelpunkt des Romans steht Fabian Hoffmann, ein Mitarbeiter der sogenannten „1001e-Nacht-Abteilung“, innerhalb des fiktiven Staates Treva. Dieses Treva, in dem unschwer die Bundesrepublik zu erkennen ist, erscheint in dem Buch als eine Fantasielandschaft mit Anklängen an Dresden, Hamburg und Berlin, mit einem „trevischen Fluss“, Leuchttürmen, Inseln und Ämtern, die tief im Innern von Bergen liegen. Aus Anlass des 25. Jubiläums der Wiedervereinigung von Treva und der „Kohleinsel“ erhält Fabian als „Chronist“ die Aufgabe einen Jubelbericht zu verfassen. Fabian Hoffmanns Tante, Anne Hoffmann, dem Leser als Gattin des Chirugen Richard Hoffmann aus dem „Turm“ bekannt, ist inzwischen zur Bundeskanzlerin aufgestiegen. Ihre Macht beruht auf einem engen politisch-medialen Schulterschluss, der von der 1001er-Nacht-Abteilung in Kooperation mit drei „Ebenen“ erzeugt wird. Auf Ebene 1 werden in der „Windmühle“ (dem Kanzleramt) wünschenswerte Narrative entwickelt und über Nachrichtenagenturen verbreitet. Auf Ebene 2 zwei vollzieht sich die Umsetzung dieser als „Nachrichten“ getarnten Impulse in gedruckte Medien, wobei die „Wahrheit“ (Spiegel), die „Traz“(FAZ) und der „Courier“(ZEIT) eine unverzichtbare Rolle spielen. „Die Wirklichkeit ist ein Roman, wir schreiben ihn“, verkündet der Herausgeber der „Wahrheit“, ohne auf die Idee zu kommen, die unsichtbaren Grenzen des Meinungskorridors zu überschreiten. Schon in dieser Phase werden Dissidenten und gegnerische Narrative identifiziert und durch „Operative Vorgänge“(OVs) und „verdeckte Ermittler („IMs“) bekämpft. Ergänzt wird dieser Kontroll- und Lenkungsapparat durch Ebene 3, in der Verlage und Lektoren dafür sorgen, dass die Literaturproduktion den Vorgaben des politisch-medialen Komplexes entspricht. Ein Schelm, wem hier die Bücher von Erpenbeck, Kirchhoff oder Menasse einfallen. Je weiter der Text voranschreitet, je deutlicher wird, wie sehr sich Treva den Usancen der alten „Kohleinsel“ angleicht, wenngleich die Anwendung dieser Machttechniken erheblich verfeinert wurde. Wie eine Subdominante in einem vielstimmigen Chor kommt immer wieder die Frage auf, ob nicht die „Wende“ selbst ein operativer Vorgang war, mit dem die Linke ihr Überleben im wiedervereinigten Treva sicherte.
Die Effektivität des politisch-medialen Komplexes erweist sich bei politischen Bewältigung der Massenmigration des Jahres 2015, für die das 1001e Nacht-Amt positive Narrative entwickelt und durchgesetzt. Nur sehr zurückhaltend wird angedeutet, dass der „Chronist“ gegenüber diesen Entwicklungen Vorbehalte aufbaut. Am Ende verliert er seine Wohnung und landet in einer Kajüte auf einem Flussschiff, wo er mit den Aufzeichnungen beginnt, von denen das Buch handelt.
Soweit der grobe Aufriss der Handlung, die sich dem Leser erst nach und nach erschließt. Und ganz einfach ist es nicht, dabei hunderten von Personen zu folgen, die mal mit Klarnamen, unter Decknamen oder als gänzlich fiktive Figuren auftreten. Wie diese Figuren auf und hinter der Bühne agieren, wird von Tellkamp allerdings meisterhaft in Szene gesetzt. Schreiend komisch kommt der erste Besuch der späteren Kanzlerin Anne Hofmann bei den Grünen daher, als sich Libosch Joschka Fischer) weigert, für seine Parteikollegen den Kaffee zu kochen. Treffend und scharf ist das Portrait der „drei Schwestern vom Berge“ gelungen, deren Talkshowfragen an die Kanzlerin an „vorgewärmte Milchfläschchen“ in einer Kinderklinik erinnern. Zynisch erscheinen die Auslassungen Oskar Brocks (Günter Grass) zur Wiedervereinigung, entlarvend die Diskussionen ehemaliger DDR-Literaten, die sich in ihren Memoiren zu Dissidenten umlügen.
Die Sprache, mit der der Autor den Leser über 900 Seiten durch seinen Roman führt, ist mal poetisch, mal detailverliebt, mal elaboriert, mal derb und in ihrer Gänze aber so „dicht“, dass jeder „Schnellleser“ sofort aus dem Rennen ist. Der Roman muss sorgfältig und langsam gelesen werden, wenn man seinen Gehalt an Verweisen und Bezügen ausschöpfen möchte. Man könnte beinahe sagen, Tellkamp „ehrt“ seine Leser, in dem er viel von ihnen erwartet, nicht nur beim Hin- und Herschweifen zwischen Zeit- und Bedeutungsebenen, sondern auch bei der Abfolge wechselnder Textsorten wie Satiren, Burlesken, tagebuchartigen Texten oder Akteninhalten. Umberto Eco hat das Kunstwerk einmal mit einer „trägen Maschine“ verglichen, die der Mitarbeit des Rezipienten bedarf. Möglich, dass diese „träge Maschine“ hier und da ein wenig viel verlangt.
All dies bedacht, handelt es sich bei dem vorliegenden Roman ein forderndes Werk, das sich wie ein literarisches Gebirge neben dem Flachland des Kulturbetriebes erhebt. Viele Wege müssen vom Leser erkundet werden, und es ist nicht ganz auszuschließen, dass sich der eine oder andere dabei verlaufen wird. Wer sich aber bemüht, den Anregungen, Beispielen und Stimmungen des Autors zu folgen, taucht nicht nur tief ein in die Stollen der Vergangenheit sondern erblickt auch die Gesteinsschichten der Gegenwart in einem neuen Licht.
Warum dann die zahlreichen Verrisse des Romans, mag man am Ende fragen. Die Antwort ist ebenso einfach wie simpel: allein die Tatsache, dass Tellkamp von einem „politisch-medialen Komplex“ erzählt, reicht hin, um den ganzen Roman Dennis-Scheck-mäßig in die Tonne zu werfen. Tellkamp legt den Finger in die Wunde, doch der Literaturbetrieb will nichts davon wissen. Dabei wäre eine Diskussion über die abschüssige Bahn, auf der sich die bundesrepublikanische Demokratie befindet, mehr als angeraten. „Zum Oppositionellen wird man nicht geboren,“, lässt Tellkamp einen Protagonisten in seinem Roman sagen, „man wird dazu gemacht. Weil man es irgendwann einfach nicht mehr erträgt, wie die Freiheit verschwindet und daß das, was übrig bleibt, Freiheit sein soll und nicht Gefangenschaft“.
Deswegen sagt die zerstörerische Kritik, die über das vorliegende Buch hereingebrochen ist, mehr über die Rezensenten aus als über das Buch. „So viel Hass, Ekel und Moral“ lautet der Titel einer SPIEGEL-Rezension, so das man sich fragen muss, welches Buch der Rezensent gelesen hat. Andere beschrieben die Romanlektüre als „eine einzige Qual“ und prophezeiten, dass „dieses Ding so schwer wie Blei in den Buchläden liegen wird“ – womit sie sich getäuscht haben, denn schon in der zweiten Woche nach seinem Erscheinen stand das Buch bereits auf Platz 3 der SPIEGEL-Bestselle