In „Momente der Klarheit“ wird weder die Welt gerettet noch der Regenwald geschützt. Es geht nicht um die Finanzkrise, um Masseneinwanderung, Einkommensunterschiede oder Krebs, sondern um das wahre Literaturthema Nummer eins: die Liebe. Wie nähert sich die Autorin diesem bereits Millionen Mal beschriebenen und unendlich oft verhunzten Thema an? Was ist ihr besonderer Zugang, der den Leser bei der Stange hält? Nach der Lektüre des Buches würde ich sagen: ihre Sprache, so unbefriedigend sich das auch zunächst anhören mag. Kristallklar, ganz leicht selbstironisch, ohne das Thema dadurch zu beschädigen, präzise und immer aus der Perspektive des Liebenden geschrieben, dem man auf diese Weise – und das ist ein weiterer Vorzug des Buches – jederzeit in die Karten seines Selbstbetruges schauen kann, erkundet Thomae das weite Feld der Liebe auf eine fesselnde, amüsante und hochintelligente Weise. Ob es sich bei „Momente der Klarheit“ um einen Roman oder um eine locker verbundene Sammlung von Kurzgeschichten handelt, ist nebensächlich. Engelhard, Susanne, Reza, Viktor, Ariane, Bender und alle die anderen erleben jeweils ihr eigenes Drama auf dem Hintergrund einer gemeinsamen Lebenswelt, in der alles durchorganisiert und beherrschbar erscheint – außer der Liebe.
Soweit die Erzählperspektive. Aber die Autorin geht noch einen Schritt weiter, wenn sie den Leser daran teilhaben läßt, wie an verschiedenen Stellen ihrer Erzählungen der Selbstbetrug der Protagonisten durch einen „Moment der Klarheit“ plötzlich aufgebrochen wird. „Momente der Klarheit“ stellen sich ein, wenn man die Liebe plötzlich nicht mehr nur von „innen“ sondern auch von „außen“ sieht, wenn man zum Beispiel begreift, dass man soeben verlassen worden ist – und der ganze Grund der Welt ins Wanken gerät! Plötzlich erkennt man die Welt, wie sie ist – und zwar ganz anders, als man sie sich vorgegaukelt hat. Der Boden öffnet sich und man fällt in die Wirklichkeit. Das hat was und wird in dem vorliegenden Buch am Beispiel Doros eindrucksvoll dargestellt.
Ein interessanter Ansatzpunkt, fürwahr. Der Moment der Erkenntnisschärfung als Ende der Liebe. oder das Ende der Liebe als Moment der Erkenntnisschärfung. Mit dieser Perspektive, konsequent durchgeführt, hätte der Autorin ein wirklich großes Buch gelingen können. Allerdings wird diese Perspektive nicht gleichmäßig durchgehalten. Mal stehen die „Momente der Klarheit“ im Vordergrund, mal im Hintergrund und mal sind sie gar nicht vorhanden. In dieser Hinsicht gelungen finde ich die Geschichte, in der ein Protagonist erkennt, dass er für seine Partnerin nur ein Platzhalter ist, ein „ungeliebtes Plagiat“. Wenn man will, kann man auch die Episode, in der eine Frau erkennt, wie sehr sie ihre Schwester hasst, als „Moment der Klarheit“ bezeichnen, schon weniger trifft das zu auf die Einsicht einer Frau, der deutlich, wie ihr Vater mit ihrer Mutter ein falsches, liebloses Leben gelebt hat. Und überhaupt nicht in der Geschichte, in der sich ein unbedarfter Jüngling nach einem Lotteriegewinn, eine Vor- und Nachteile-Liste über seine Partnerin erstellt, um zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, ob sie für ihn die richtige ist. Hier gibt es überhaupt keinen „Moment der Klarheit“. Untersucht man das ganze Buch also ernsthaft auf die Umsetzung des literarischen Programms, wird man konstatieren müssen, dass es nur sehr partiell umgesetzt wird und sehr oft hinter das bloße Heruntererzählen einer Handlung zurücktritt. Wobei man von einer Handlung eigentlich gar nicht sprechen kann, denn es entwickelt sich nichts, alles bleibt unklar, ein Mäandern zwischen Selbsttäuschung und Klarheit ohne Lösung, was als Metapher für die ewig ins sich kreisende Welt der Liebe vielleicht noch nicht einmal so schlecht ist. Ein weiteres Manko des vorliegenden Buches besteht in der Charakterzeichnung Die handelnden Personen besitzen überhaupt keine Tiefe, sie sind auf eine verwirrende Weise austauschbar, und man ist immer wieder gezwungen, ins Personenverzeichnis nachsehen, um zu wissen, von wem gerade die Rede ist. Es gibt auch sogar immanente Fehler, die dem Lektor hätten auffallen müssen. Die Figur der Vesna wurde sehr spät eingeführt (Lange nach der Bender-Trennung), dann tratschen Lydia und Vesna bei der Bender-Hochzeit wie uralte Freudinnen miteinander über Ereignisse, die lange vor Vesnas auftauchen geschehen sind. Das kann nicht stimmen.
Trotzdem habe ich das vorliegende Buch gerne gelesen. (Ein Lesefreund, dem das Buch nicht gefiel, meinte dagegen, es gliche einer Sammlung von „Brigitte“-Kurzgeschichten). Mir dagegen ging es mit dem Buch wie einem Betrachter mit einem Bild, das einem auf Anhieb gefällt, ehe man bei näherem Hinsehen die Schwachstellen erkennt. Trotzdem der Schachstellen aber ist das Potential, das in dem Bild, oder besser gesagt: in dem Künstler steckt, unübersehbar. Mit dieser Sprachmächtigkeit und Erzählfreude und etwas mehr formaler Disziplin bei der Umsetzung des literarischen Programms könnte bei nächsten Mal etwas wirklich Gutes entstehen. Also mach weiter, Jackie.