Urbach: Königin Victoria

Es gibt kaum einen Monarchen, dessen Namen derart weitflächig auf der Weltkarte verewigt wurde, wie der von Königin Victoria. Es gibt die Victoria Fälle, den Victoria See, die Stadt Victoria im Süden Afrikas, den Mount Victoria bei Wellington in Neuseeland und so weiter. Diese Namensgebungen sind ein Ausdruck dafür, dass sich ein ganzes Zeitalter und damit auch die Entdecker und Politiker, die die Befugnis hatten, Namen zu vergeben, als Mitglieder des „viktorianischen Zeitalters“ verstanden. Was war das für eine Person, deren Regierungszeit (1837 bis 1901) als „viktorianisches Zeitalter“ bezeichnet wird?

Die Historikern Karina Urbach hat in dem vorliegenden Buch Königin Victorias Leben und ihre Zeit in aller Ausführlichkeit ausgeleuchtet. Um es gleich vorweg zu sagen: das Buch liest sich ganz vorzüglich, ist sprachlich geschliffen und in sachlicher Hinsicht tadellos. Jeder der Protagonisten, die Victorias Leben beeinflusste, sei es die Hofschranze Conroy, Lord Melbourne, Richard Peel, ihr Prinzgemahl Albert, Palmerstone, Gladstone oder Disraeli werden anschaulich und zutreffend charakterisiert. Auf diese Weise entsteht das Portrait einer ganzen Epoche, nicht nur, was das Hofleben und die internationale Politik betrifft, sondern auch was im Hinblick auf das, was in Gesellschaft, Wirtschaft, Kunst und Kultur geschieht.

Ich habe durch dieses Buch endlich verstanden, wie dieser Spross eines unbeliebten Königssohnes und einer deutschen Prinzessin auf den englischen Thron gelangte. Denn Georg III., der geisteskranke König, der die amerikanischen Kolonien verlor, hatte mehrere Söhne, die ihm folgten, zuerst der verschwendungssüchtige und kunstliebende Georg VI. (1820-1830), dann William IV. (1830-1837). Beide starben kinderlos, so dass die Tochter Edwards, des dritten Königssohnes und der deutschen Prinzessin Victoria  von Coburg-Gotha, die 1819 geborene Victoria Alexandra, plötzlich in der Thronfolge ganz oben stand. Das war eine heikle Konstellation, die Karina Urbach wie einen Erziehungs- und Kriminalroman schildert. Da ist der umtriebig und korrupte Conroy, der versucht, über Victoria politische Macht zu erhalten, da ist ihre willensschwache Mutter Victoria, ihre deutsche Erzieherin Baronin Lehzen, an der Victoria ihr Leben lang hängen soll und schließlich Lord Melbourne, ihr erster väterlicher Freund und eigentlicher Ratgeber und Erzieher. Was ich auch nicht wusste, war, dass Lord Melbournes Gattin Caroline Lamb, eine gefeierte Schönheit, ihren Garten öffentlich durch ihre Liaison mit dem Dichter Lord Byron bloßstellte. Nach der Scheidung starb sie in Trunksucht und Wahnsinn.
Dergleichen durfte sich Victoria natürlich nicht leisten. Sofort nach ihrer Thronbesteigung stand eine mögliche Vermählung im Raum. Eingeschränkt war sie dabei nur durch den so genannten „Act of Settlement“, der es einer Monarchin verbot, einen katholischen Kandidaten zu wählen. So blieben eigentlich nur protestantische Fürsten aus Deutschland und Skandinavien übrig, von denen der etwas langweilig und introvertiert daherkommende  Prinz Albert von Sachsen-Coburg Gotha schließlich das Rennen machte. In der Netflix Serie „Victoria“ erscheint Prinz Albert als eine schlecht gelaunte, pedantische Schlaftablette. Demgegenüber nimmt die Autorin den Prinzen in Schutz, denn er besaß eine viel profundere Bildung als Victoria, hatte eine Gespür für soziale Themen und bändigte das Temperament seiner Frau. Auch optisch schlug er bei Victoria ein wie eine Bombe: „Zeit ihres Lebens würde sie (Victoria L.W.)) eine Schwäche für schöne Männer haben. Dies war ihre hannoverisch-sinnliche Seite. Ausgeglichen wurde diese Schwäche durch die Erkenntnis, dass es für eine Monarchin überlebenswichtig war, sich mit intelligenten Männern zu umgeben. Albert schien in dieser Hinsicht eine seltene Kombination darzustellen: Er war schön und klug. In den folgenden Wochen füllte Victoria unzählige Tagebuchseiten mit Beschreibungen seiner Figur, seiner blauen Augen und der wunderbaren Unterhaltungen.“ So wurde aus der Zeit von 1840 bis 1861 (dem Todesjahr Prinz Alberts) de facto eine Doppelherrschaft. Allerdings musste der Prinz sich diese Doppelherrschaft in den ersten Jahren in harten ehelichen Auseinandersetzungen erkämpfen, wobei er, so die Autorin, den „Liebesentzug“ durchaus taktisch einzusetzen wusste. Besonders langanhaltend scheint dieser Liebesentzug jedoch nicht gewesen zu sei, wie die folgende Liste zeigt:  „1840 wurde die Tochter Victoria geboren, 1841 Albert Edward, Prince of Wales; Alice folgte 1843, Alfred 1844, Helena 1846 und Louise 1848. In den 1850er-Jahren kamen noch drei Nachzügler hinzu: Arthur 1850, Leopold 1853 und Beatrice 1857. Erst bei den letzten beiden Geburten erhielt die Königin Chloroform, um die Schmerzen besser ertragen zu können.“

Es gelang Prinz Albert, den Hofstaat der Königin mit seinen Anhängern zu besetzen, und  er formulierte die Antworten der Königin für die Staatskorrespondenz.  Im Kontakt mit den Premierministern war Albert klug genug, deren intellektuelle Überlegenheit anzuerkennen und zugleich die Spielräume auszuloten, die der britischen Monarchien blieben. Auch diese Haltung wurde später von Victoria übernommen, und das zu ihrem Vorteil, denn, so Karina Urbach,  „kein anderes Jahrhundert hat eine solche Häufung von brillanten britischen Politikern hervorgebracht hat wie das 19. Jahrhundert: Peel, Palmerston, Gladstone, Disraeli und Salisbury. Alle waren sie Ausnahmepersönlichkeiten, auf deren Niveau das Königspaar kaum konkurrieren konnte.“

Sozialgeschichtlich besonders bedeutsam wurde die bürgerliche Inszenierung eines glücklichen Familienleben durch den Prinzen. Albert, der seine amoralische Adelsverwandtschaft entschieden ablehnte,  engagierte sogar Fotografen und Maler, um das glückliche Familienleben in die Öffentlichkeit zu bringen. Ein besonders großer und beispielgebender Erfolg wurde die Weltausstellung von 1851 in London. Weniger erfolgreich waren Victoria und Albert bei der Erziehung ihrer Kinder. Die Autorin ist der Ansicht, dass sich Victoria nicht sonderlich für ihre Kinder interessierte, erst im Alter sollte sie ihr Herz für ihre 42 (!) Enkel entdecken.

Der überraschende Tod Prinz Alberts, der 1861 im Alter von nur 42 Jahren starb, warf die Königin in einer Lebenskrise, die acht Jahre dauerte und die sie dazu veranlasste, ihrem verstorbenen Gemahl in Gestalt des Prinz Albert Denkmals und der Royal Albert Hall monumentale Denkmäler zu setzen. Möglicherweise war es nur die bizarre Liaison mit dem schottischen Hausdiener John Brown, die sie aus dieser Lebenskrise befreite, befreite.

In der Zwischenzeit geht die Weltgeschichte weiter. Großbritannien hält sich aus dem amerikanischen Bürgerkrieg heraus, verschafft sich aber maßgeblichen Einfluss am Suezkanal, der 1869 eröffnet wird. Der indische Aufstand wird niedergeschlagen und Victoria nimmt den Titel „Kaiserin von Indien“ an.  Das Empire steht in seinem Zenit und Großbritannien verändert sich. „Die Lebenserwartung bis zum Ende des Viktorianischen Zeitalters von 39 auf 55 Jahre anstieg. Die Bevölkerung verdoppelte sich von 9 Millionen 1801 auf 18 Millionen 1851; in Victorias Todesjahr 1901 war sie auf 30,5 Millionen angewachsen. Dies wiederum zog einen enormen Bauboom nach sich. Ca. 6 Millionen Häuser wurden während Queen Victorias Regierungszeit gebaut, dazu Straßen, Museen“

Gerade angesichts dieser Veränderungen bewahrt sich Victoria lebenslang ein scharfes Auge für die Lage der unteren Schichten, ohne sich mit letzter Kraft für sie einzusetzen. In den 1880er Jahren kocht die Irland -Frage wieder hoch. Eine „Home Rule“ Gesetzesvorlage, die Irland ein eigenes Parlament gebracht hätte, scheitert im Parlament 1886.

Als Victoria 1887 ihr 50-jähriges Thronjubiläum gefeiert wird, ist das Volk begeistert.  Überschattet werden die Festlichkeiten durch die Erkrankung den Tod ihres Schwiegersohns, des deutschen Thronfolgers Friedrich III, der nach nur 90 Tagen Regierungszeit an Kehlkopfkrebs stirbt .  1892 stirbt ihr Enkel Eddy, Bertis Sohn, der unter dem Verdacht steht, er sei  Jack the Ripper gewesen. 1893 scheitert das zweite irische Homo Rule Gesetz im Oberhaus, was  schreckliche Auswirkungen auf die weitere Konfliktgeschichte haben sollte. Victoria erlebt noch die rapide Verschlechterung des deutsch-englischen Verhältnisses, ohne die Hintergründe wirklich zu verstehen. Ähnlich ahnungslos bleibt sie im Hinblick auf die Burenkriege, die das Empire um 1900 an den Pranger der Welt stellen.

Dann geht es abwärts.  „Seit 69 Jahren hatte sie ein Tagebuch geführt, am 14. Januar 1901 blieb zum ersten Mal ein Eintrag aus. Ein paar Tage später schien sie mehrere kleine Schlaganfälle erlitten zu haben, die es ihr erschwerten zu sprechen. Ihre ganze Familie versammelte sich nun auf der Isle of Wight. Wie immer hierarchisch denkend, bestand Wilhelm II. als ältester Enkel und deutscher Kaiser darauf, an Victorias Krankenbett die beste Position zu beziehen.“ Victoria stirbt, ihr Sohn Berti wird als Eduard VI neuer britischer König. Den Herzenswunsch seiner Mutter, sich als König „Albert I.“ zu nennen, erfüllt er nicht.

Im letzten Kapitel beschreibt  die Autorin, die weitere Geschichte der Königsfamilie, die im Ersten Weltkrieg auseinanderbricht.  Um Ihre Distanz zu Deutschland zu demonstrieren, ändert die Familie ihren Namen von Sachsen Coburg Gotha in „Haus Windsor“. Die deutschen Verwandten werden stigmatisiert und enterbt, ein Trauerspiel ist die unterlassene Hilfeleistung der englischen Monarchie im Hinblick auf die gestürzte Zarenfamilie, die von den Kommunisten ermordet wird.