„Die Eule der Minerva beginnt am Abend ihren Flug“, schrieb Hegel in seiner Rechtsphilosophie und meinte damit, dass die Philosophen die großen epochalen Veränderungen oft erst verstehen, wenn sie bereits vollzogen sind. Zu nahe an den Aufdringlichkeiten der alltäglichen Welt entgehen selbst dem Fachmann die grundlegenden Züge des großen Drehbuchs, nach dem die Zukunft geschrieben wird. Autoren, die es trotzdem versuchen, riskieren herbe Fehldiagnosen wie etwa Francis Fukuyama mit seiner These vom „Ende der Geschichte“. Und wenn sie schon einmal richtig liegen, wie Samuel Huntington („Kampf der Kulturen“) will niemand auf sie hören.
Es ist also reichlich vermintes Gelände, auf das sich der Europa- und Völkerrechtler Ulrich Vosgerau mit seinem Buch „Herrschaft des Unrechts“ vorwagt, vor allem, weil sich der Autor nicht mit der juristischen Kritik der sogenannten „Flüchtlingskrise“ begnügt sondern sich um ein Gesamtverständnis der politischen Transformationen bemüht, denen Deutschland spätestens seit 2010 ausgesetzt ist. Bei dieser Transformation handelt es sich nach Vosgerau um den Umbau des national begründeten demokratischen Verfassungsstaates in ein postdemokratisch-autoritäres System durch eine immer weiter vorangetriebene Erosion des Rechts. Der Ausgangspunkt dieser Transformation ist das ungeklärte Nebeneinander von nationalem, europäischem und internationalem Völkerrecht, das es den politischen Machthabern erlaubt, sich aus diesem unübersehbaren Fundus in einer Art Rosinenpickerei zu bedienen. So führt etwa der sogenannte „Anwendungsvorrang des europäischen Rechts dazu, dass mitunter geltendes nationales Recht einfach nicht angewendet wird. Es kann aber auch sein, dass geltendes EU Recht national je nach politischer Opportunität mit einem Anwendungsvorbehalt versehen wird. Wie weit die Instrumentierung des Rechts vorangeschritten ist, zeigt die sorglose Missachtung europarechtlicher Normen durch die europäischen Eliten selbst, die völkerrechtlich bindende Verträge einfach missachten oder Sanktionsverfahren gegen Defizitsünder je nach Gusto mal einleiten oder auch nicht.
Das Schlagwort von der „Herrschaft des Unrechts“ bedeutet also nicht die völlige Abwesenheit von Rechtsnormen, sondern der Ersatz demokratisch erlassener und nachvollziehbarer Rechtssätze durch ein komplexes und undurchsichtiges Geflecht aus Europa- und Völkerrecht, das sich als Arkanwissen in seiner Gesamtheit dem Verständnis des Wählers entzieht. Auf diese Weise entwickelten sich aus parlamentarisch eingebundenen Regierungschefs abgehobene Administratoren, die qua Selbstermächtigung regieren und es ihren Adlati überlassen, die dazu passenden Rechtssätze zu finden. Dass dies dem vertrauensseligen Bürger, der noch immer an Volkssouveränität, Rechtsstaat und Demokratie glaubt, bisher völlig entgangen ist, verleiht dem vorliegenden Buch seine brennende Aktualität.
Die Krise des demokratischen Verfassungsstaates begann nach Vosgerau schon 2010 mit den Rechtsbrüchen im Zuge der Eurorettung, die damals allerdings noch durch eine schnell eingeholte volkskammerähnliche Gesamtakklamation des Parlaments notdürftig legitimiert wurde. Ein weiterer Schritt in Richtung auf einen postdemokratischen Selbstermächtigungsstaat bildete die spontane und in ihren Konsequenzen undurchdachte Entscheidung der Bundeskanzlerin, die gerade erst beschlossene Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke im Schatten von Fukushima einfach umzuwerfen. Ihr volle Sichtbarkeit gewann die Verfassungskrise aber erst 2015 , als die Kanzlerin wieder in einem Akt einsamer Selbstermächtigung und gegen den Rat ihrer Fachleute die bundesdeutschen Grenzen entblößte. Diesmal versagte jedoch die Rosinenpickerei der Rechtslegitimation: Weder Artikel 16 der Verfassung, noch Artikel 18 des Asylgesetzes, weder die Genfer Flüchtlingskonvention und schon gar nicht Artikel 17 der Dublin III Verordnung (Selbsteintrittsrecht) gaben der deutschen Regierung irgendeine Berechtigung, Millionen Migranten aus sicheren Drittstaaten weitgehend ungeprüft einreisen zu lassen.
Umso bedrückender waren zwei Begleiterscheinungen dieser Rechtsbrüche, auf die Vosgerau im Zusammenhang mit der „Flüchtlingskrise“ ausdrücklich hinweist, eine innerwissenschaftliche und eine massenmediale. Innerwissenschaftlich-juristisch war verblüffend, wie dröhnend die Fachwelt zu den Rechtsbrüchen der Regierung schwieg und wie beflissen sich karriereambitionierte Jung-Juristen bemühten, mit kurioser Gedankenakrobatik die rechtliche Unbedenklichkeit der Grenzöffnung aus dem Hut zu zaubern. Ein Schelm, wer hier an Daniel Thym und andere denkt.
Viel ernster und bedrohlicher für den Bestand des Verfassungsstaates aber war die affirmative Reaktion der Massenmedien, die keineswegs nur als Transformatoren der politischen Führer sondern eher als Impulsgeber auf Augenhöhe verstanden werden müssen. Eine Woge massenmedialer Gutmenschenmoral schwappte über das Land und stellte jeden, der auch nur zart zu widersprechen wagte, in die „Hetzer“ und „Spalter“-Ecke. Spätere Forscher werden die üble Rolle, die die öffentlich-rechtlichen Medien, SPIEGEL, ZEIT, STERN und BILD und vor allem die Süddeutsche Zeitung, in diesem gesamtgesellschaftlichen Gleichschaltungsprozess spielten, herausarbeiten können – an den persönlichen Herabsetzungen, denen Oppositionelle seit 2015 ausgesetzt waren, wird das nichts mehr ändern. Vosgerau selbst wurde nach seinem Aufsatz über die „Herrschaft des Unrechts“ in der Monatszeitschrift „Cicero“ zum Opfer einer Stigmatisierungskampagne, bei der sich unter Federführung der „Süddeutschen Zeitung“ das ganze disparate Personal der Zivilgesellschaft in Stellung brachte. Dass er kurz darauf eine Lehrstuhlvertretung verlor, gehört mit in das triste Bild einer sich langsam entfaltenden autoritär-postdemokratischen Gesellschaft.
Trotzdem hat der Autor nicht aufgegeben, sondern vertritt als Rechtsberater die Verfassungsbeschwerde der AfD gegen die Grenzöffnung, die derzeit beim Bundesverfassungsgericht vorliegt. Kern dieser Beschwerde sind die zahlreichen Rechtsbrüche der Exekutive und die Verletzung der sogenannten „Homogenitätsbewahrungspflicht“, nach die Regierung nicht ohne Weiteres die Zusammensetzung des souveränen Wahlvolkes in ihrem Sinne verändern darf. Ob das oberste deutsche Gericht im Stadium seiner fortgeschrittenen parteienstaatlichen und europarechtlichen Deformation dieser Beschwerde Gehör schenken wird, erscheint wenig wahrscheinlich. Man darf aber gespannt sein, so Vosgerau, mit welchen kasuistischen Verrenkungen die Verfassungsrichter die Rechtsbrüche der deutschen Regierung und ihrer Unterstützer nachträglich legitimieren werden. Spätestens dann wird „Herrschaft des Unrechts“ für alle offensichtlich sein.
Diese Rezension erschien zuerst in der Wochenzeitschrift „Junge Freiheit“ am 19.4.2018