Lange Zeit war der „“Osten“ ein pejorativer Begriff, so pejorativ, dass Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn Wert darauf legen kein „Osten“ sondern „Mitteleuropa“ zu sein. Wie aber verhält es sich mit dem „Westen“? Ganz anders, würde Heinrich August Winkler in seiner „Geschichte des Westens“ antworten, denn der „Westen“ ist für ihn nicht einfach nur der Westen sondern das Chiffre für ein „normatives Projekt“, das um Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde zentriert ist. Die Scheidung von „West“ und „Ost“ nicht also nicht nur eine geografische sondern auch eine sittliche – oder um es mit Hegel zu sagen: Winkler ist fest davon überzeugt, dass der Weltgeist stramm auf Seiten des Westens unterwegs ist. Das vorliegende monumentale vierbändige Gechichtswerk soll diese Perspektive plausibel machen.
In der Einleitung des ersten Bandes („Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert“) lässt Winkler diese Dualität von West und Ost mit den Perserkriegen, d.h. dem Gegensatz von Griechen und „Barbaren“, beginnen. Mit West- und Ostrom hält er sich nicht lange auf, sondern kommt gleich auf den mittelalterlichen Gegensatz von „Westkirche“ und „Ostkirche“ zu sprechen, die sich im Schisma von 1054 trennten. Diese Trennung ist nach Winkler in ihren geistesgeschichtlichen Folgen kaum zu überschätzen, meint Winkler, denn nur im geistigen Umfeld der mittelalterlichen Westkirche entstand das, was Winkler als „das normative Projekt des Westens“ bezeichnet. Ausgangspunkte waren die „Papstrevolution“, der Investiturstreit und die Entstehung des Bürgertums, die zu ersten Formen der Gewaltenteilung und der Rechtsbindung der Obrigkeit führen. Als maßgeblichen Träger dieses normativen Projektes identifiziert Winkler England, den freiheitlichsten Staat Europas, von dessen politischer Verfasstheit wesentliche Impulse für das Denken der Aufklärung ausgingen, wenngleich dieses Denken vorwiegend von französischen Philosophen formuliert und radikalisiert wurde. Die Revolutionen von 1776 und 1789 waren die ersten machtvollen Manifestation des normativen westlichen Projektes in der politischen Praxis, begründet und überhöht durch die ausformulierte universale Idee der Menschenrechte. Obwohl die Grundsätze der neuzeitlichen Revolutionen global formuliert waren, beschränkten sich ihre Auswirkungen zunächst auf den westeuropäisch- nordatlantischen Raum. Im Zuge der imperialistischen Ausdehnung des Westens über die ganze Welt wurde der Westen spätestens ab dem 19. Jhdt. vom Rest der Welt erstmals als Einheit wahrgenommen, und zwar als Einheit der „weißen Rasse“, die sich die Welt untertan gemacht hat. Allerdings erwuchs dem Projekt des Westens innerhalb des Westens ein machtvoller Gegenspieler mit einem alternativen Ordnungsmodell, nämlich Deutschland mit seiner besonderen Kultur der Innerlichkeit und des starken Staates einem „Sonderweg“ folgte – exemplarisch ausgedrückt in den „Ideen von 1914“, die als Widerpart der Ideen von 1789 begriffen wurden. In der Epoche des Totalitarismus geriet das normative Projekt des Westens dann von zwei Seiten her unter Beschuss: durch den Nationalsozialismus (bis 1945) und den Kommunismus (bis 1989) , eine Krise die übrigens nur gemeistert wurde, weil es zu einem engen nordatlantischen Schulterschluss zwischen Westeuropa und den USA kam. In der Epoche des „Kalten Krieges“ endet zugleich auch der deutsche Sonderweg. In Anlehnung an Jürgen Habermas definiert Winkler die geschichtliche Mission der zweiten deutschen Demokratie geradezu als die einer vollkommenen Angleichung an den Westen. Grundlage dieser Westintegration war die rückhaltlose Anerkennung der deutschen Schuld am Holocaust als Basis der eigenen Staatlichkeit. Gegen die Forderung, sich der geschichtlichen Schuld bewusst zu sein, wird man nichts einwenden wollen, die Ausschließlichkeit, mit der Winkler die „Schuld“ zur Grundlage der nationalen Identität auch für die Nachgeborenen erhebt, befremdet allerdings. Kritisch könnte man anmerken, dass hier und anderswo der Autor seiner Rolle als Laudator des bundesrepublikanischen Mainstreams in einer Ausschließlichkeit gerecht wird, die angesichts der Weite seines Horizontes befremdet. Nach dem vollständigen Sieg des Westens im Systemwettbewerb mit dem Osten tauchte nach 1989 kurzfristig die Idee vom „Ende der Geschichte“ auf, will sagen: vom totalen Sieg des westlichen Denkens über alle anderen System der Welt. Dieser Traum hat sich längst verflüchtigt wie Winkler im letzten Band seines Werkes schreibt – im Gegenteil: in einer immer multipolareren Welt sieht sich der ehemals vorherrschende Westen auf seinen europäisch nordatlantischen Kernbereich zurückgeworfen und vom Islam und China herausgefordert. Selbst in Europa wird der Begriff des Westens insofern wieder obsolet, als er über seine alten Grenzen nach Osten ausgreift, ohne jedenfalls bis zum jetzigen Zeitpunkt, dort wirklich heimisch zu werden. Die Vischegradstaaten lassen grüßen. Soweit in wenigen Sätzen die Grundzüge der Winkler´schen Weltgeschichte. Sie sind in ihrer Jahrtausende umfassenden Perspektive imponierend genug. Noch imponierender aber ist, wie Winkler die Geschichte des Westens auf Tausenden von Seiten erzählt. erzählt. Das „alles mit allem zusammenhängt“, ist von je her ein banales Narrativ der Geschichtswissenschaft. Umso schwieriger ist es, dieses Narrativ glaubhaft in einer geschichtlichen Gesamterzählung zu verwirklichen, ohne zu abstrakt, zu konkret zu oberflächlich oder zu belehrend zu wirken. Im vorliegenden Buch wird dieser Anspruch auf überzeugende Weise eingelöst. Die ungemein eingängige geschichtliche Gesamterzählung vom normativen Projekt des Westens – so sehr man auch im Hinblick auf einzelne Aspekte – anderer Ansicht sein mag, ist die eigentliche Leistung des Werkes. Wirklich nachempfinden, kann sie nur, wer die vier Bände dieses Werkes liest und sich einem geschichtlichen Exerzitium unterzieht, bei dem der Strom Weltgeschichte gleichsam nach Westen fließt.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute, möchte man am Ende dieser beeindruckenden Reise sagen. Denn auch wenn man als Leser vor dem erratischen Werk das Haupt in Ehrfurcht neigen möchte, kann man die Augen nicht davor verschließen, dass dieses so erfolgreiche Projekt des „Westens“ in die Krise geraten ist. Diese Krise ist eine inhärente Krise, das heißt, sie beruht auf Elementen, die gleichsam zur „DNA des Westens“ gehören. Oder wie soll man es anders verstehen, dass der Sozialismus in seinen verschiedenen autoritären Varianten einfach nicht verschwinden will? Tausendfach widerlegt, feiert er immer wieder fröhlich Urständ innerhalb freiheitlicher Gesellschaften. In einem bizarren Amalgam mit Keynesianismus, Ökofundamentalismus, massenmedialer Manipulation und Minderheitenkult ist er zur Grundlage eines „sanften Totalitarismus“, geworden, der in seiner Kombination von autoritärer Nanny-Staatlichkeit und dem Dogma offener Grenzen das ganze Projekt ab absurdum führen könnt. Überblickt man Winklers sehr vorsichtigen Äußerungen zur aktuellen Politik, zur muslimischen Masseneinwanderung, zum inflationären Gebrauch des Faschismusbegriffs oder zu den Grundrechtseinschränkungen im Zuge der Corona Krise, scheint er sich dieser Gefahren durchaus bewusst zu sein. Auf einen 5 Band über „Das normative Projekt des Westens in der Krise“ werden wir aber wohl vergeblich warten.