Wittstock: Marcel Reich-Ranicki

 Uwe Wittstock, ehemaliger FAZ-Redakteur und Autor des vorliegenden Buches hat Marcel Reich-Ranicki aus beruflicher und privater Nähe erlebt und alles zusammengetragen, was es an Wesentlichem zu diesem Leben zu sagen gibt. Die Sympathie des Autos für seinen Protagonisten ist unverkennbar, auch wenn hier und da leise Kritik zu vernehmen ist. Interessant ist das Buch vor allem in der Nachzeichnung der literarischen Debatten und der Motive der zahlreichen Marcel Reich-Ranicki-Kritiker, an denen es dem „Großkritiker“ weiß Gott nicht mangelte.

Der junge Marcel (Bild aus dem besprochenen Buch)

Die ersten hundert Seiten beschreiben Reich-Ranickis Lebensweg, seine Familie, das berufliche Scheitern des Vaters in Polen und die Übersiedlung nach Berlin. Der junge Reich-Ranicki besuchte das Gymnasium und legte noch im Jahre 1938 das Abitur ab, wurde aber kurz darauf  nach Polen abgeschoben, Dort gerieten er und seine Familie nach Ausbruch des Krieges in das Räderwerk des nationalsozialistischen Völkermordes. Fast seine ganze Familie kam um, er selbst überlebte mit seiner jungen Frau Tosia im Keller des polnischen Ehepaares Gawin. Unmittelbar nachdem die Deutschen abgezogen waren,  stellten sich die Reichs im Jahre 1944 dem „Lubliner Komitee“ zur Verfügung. Das Lubliner Komitee war eine kommunistische Organisation, die nach dem Einmarsch der Roten Armee die gewaltsame Okkupation des Landes durch die Sowjetunion mit einem pseudolegalen Mäntelchen drapieren sollte. Wer den Reichs ihre Parteinahme aus der sicheren Sofaperspektive der Nachgeborenen vorwirft, muss bedenken dass es für überlebende Juden in dieser Zeit mit Ausnahme der Auswanderung kaum Alternativen gab, denn die  Armia Krajowa, die Armee des freien Polens, war den Sowjets nicht nur hoffnungslos unterlegen, sondern auch stark antisemitisch geprägt. Ebenso wie der Jude Szmul Goldstyn, der in dem Roman „Das Dorf Nowolipie“   sich nach dem Verlassen seines Kellerverstecks sofort zu den Sowjets nach Lublin begibt, suchten Marcel und Tosia Reich natürlicherweise Schutz bei der einzigen Macht, die wenigstens auf der programmatischen Ebene den Antisemitismus konsequent verurteilte. Nicht zuletzt aus diesem Grund waren die Juden übrigens in der kommunistischen Partei  Polens  massiv überrepräsentiert.

Marcello Ranicki (Bild aus dem besprochenen Buch)

Reich-Ranicki fand zunächst eine Anstellung im Parteiapparat und reiste als Angestellter des polnischen  Auslandsgeheimdienstes nach Berlin, um Raubgut zurückzuführen. Nach seinem Eintritt in die  Kommunistische Partei wurde er 1947  als Botschaftsangestellter nach London geschickt, um polnische Geheimdienstoperationen zu unterstützen. Um mit seinem deutschen Namen keine Aversionen zu wecken, nahm er den Namen „Marcello Ranicki“ an, aus dem später der Name „Marcel Reich-Ranicki“ entstehen sollte. „Er begann als Vizekonsul und wurde schon im Sommer 1948 zum Konsul befördert befördert“, schreibt Wittstock. „Seine Frau und er verfügten über ein beachtliches Einkommen, eine gut ausgestattete Wohnung und einen amerikanischen Wagen. Sie reisten gelegentlich nach Paris, machten Urlaub in Italien und der Schweiz. Am 30. Dezember 1948 wurde ihr einziges Kind, der Sohn Andrzej Alexander, geboren. Rückblickend hat Tosia Reich-Ranicki die Zeit direkt nach dem Krieg die schönste Phase ihres Lebens genannt:“  In seiner Doppelfunktion als Konsul und Geheimdienstmitarbeiter führte Marcel Reich-Ranicki ein Dutzend Spitzel, die die Zusammenkünfte der polnischen Opposition besuchten. Über ihre Beobachtungen verfasste Marcel Reich-Ranicki zusammenfassende Berichte, die er nach Warschau schickte. Spätestens an dieser Stelle beschleicht den Leser ein gewisses Unbehagen darüber, wie wertfrei heute über diese Tätigkeit hinweggegangen wird. Immerhin handelte es sich bei den polnischen Oppositionellen um Demokraten, die für die Freiheit ihres Vaterlandes kämpften und bei den Kommunisten um Anhänger eines totalitären Systems. Ohne mich hier als Nachgeborener auf die hohe Warte zu setzen, muss die Frage erlaubt sein, wie weit die jüdische Identität die Parteinahme für die totalitäre Seite entschuldigen kann.

Marcel Reich-Ranickis Rückkehr nach Warschau im Jahre 1949 fiel zusammen mit dem Machtwechsel von Gomulka zu Bierut, der als neuer Machthaber einen strikten Stalinisierungskurs einschlug, der 115.000 Menschen das Leben kosten sollte. Auch Marcel Reich-Ranicki wurde wegen lächerlicher Abweichungen aus der Partei ausgeschlossen. »Ich war verfemt und bekam es täglich zu spüren“, schreibt Reich-Ranicki. „Wenn mich Bekannte auf der Straße sahen, machten sie plötzlich einen großen Bogen um mich, sie zogen es vor, mich nicht mehr zu kennen.“  In dieser Situation suchte Marcel Reich-Ranicki die Tröstungen der  deutschen Literatur und vergrub sich in die Schriften von Heine, Goethe und Thomas Mann,  während seine Ehefrau mit ihrem bescheidenen Salär die kleine Familie am Leben erhielt. Schließlich gelang es ihm, sich als Rezensent und Fachmann für deutschsprachige Literatur (vor allem der DDR) zu etablieren. Erst nach dem Tod Bieruts und den politischen Umwälzungen von 1956, die Gomulka wieder an die Macht brachten, wurde Marcel Reich-Ranicki erneut in die Partei aufgenommen. In der Ägide eines kurzfristigen Tauwetters der späten fünfziger durfte er sogar ins Ausland reisen und lernte Vertreter der westdeutschen Literatur kennen.  Spätestens 1957 nahm der Plan, nach Westdeutschland überzusiedeln, konkrete Gestalt an, nicht nur, weil sich Reich-Ranicki dem Marxismus entfremdet hatte, sondern  auch, weil er in Polen für sich keine wirkliche Zukunft mehr sah. 1958 gelang die parallele Ausreise von Frau und Sohn (im Flugzeug nach London) und Reich-Ranicki per Zug nach Frankfurt a.M.in den Westen.

„Ich kam 1958 nach Deutschland mit einem kleinen Koffer“, schrieb Marcel Reich-Ranicki. „Mein Sohn war vorläufig bei meiner Schwester in London untergebracht. Meine Frau hatte keine Erlaubnis, in England zu bleiben, sie ist deshalb nach Paris gegangen zu einer Tante. Wir hatten nichts, wir mussten kämpfen ums Dasein. Ich habe damals Rundfunksendungen geschrieben, um Geld zu verdienen, und habe für das miserable Honorar, das FAZ und Welt zahlten, Rezensionen geschrieben, um mir einen Namen zu machen“. Weil seine Rezensionen prägnant, faktensicher, einfallsreich und in einer geschliffenen Sprache daherkamen, hatte er Erfolg, etablierte sich schnell als angesehener (und gefürchteter) Kritiker und wurde von Hans Werner Richter zu einer Tagung der Gruppe 47  eingeladen. Auch hier reüssierte er mit seiner überragenden rhetorischen Begabung, stieß aber auf persönliche Animositäten, weil er es  ablehnte, Gefälligkeitskritiken zu verfassen. Dass er auch vor heben Verrissen ihm Nahestehender nicht zurückschreckte, befremdete, seine verletzende Art schuf ihm lebenslange Feinde. „»Bei den Schriftstellern« zitiert Wittstock Dieter E. Zimmer, den Feuilletonchef der ZEIT, „war er verhasst auf eine Weise, die sich heute niemand mehr vorstellen kann. Keine zwei Literaten konnten sich damals irgendwo treffen, ohne erst einmal im Duo über Reich-Ranicki herzuziehen. Es war ein Hass, der aus der Furcht kam, und hinter der stand auch eine Menge Respekt. «

Zusammen mit Walter Jens und Joachim Kaiser verändert Marcel Reich-Ranicki die Stimmung in der Gruppe 47. Aus dem kollegialen Gespräch der Autoren wurde eine Kritikerveranstaltung, was einige veranlasste  Hans Werner Richter zu bitten, Marcel Reich-Ranicki nicht mehr zur Gruppe 47 einzuladen. Dabei stießen sie bei Richter auf offene Ohren.   »Schwer fällt mir Ranicki“, schrieb Richter 1961 an Hildesheimer. “Was mache ich nur mit dem? Ich mag ihn gar nicht mehr. Er ist in einer Gruppe von Freunden ein toter Punkt (…) oder ein blindes Huhn, das immerfort gackert (…) und Windeier legt.«

Erich Fried liest bei der Gruppe 47 (Bild aus dem besprochenen Buch)

Jenseits der Gnadenlosigkeit der Qualitätskritik und der Schroffheit der Verrisse gab es noch einen weiteren Grund für die Ablehnung, die Marcel Reich-Ranicki entgegenschlug. „Während Enzensberger  zum Studium der Revolution Fidel Castros nach Kuba reiste, Walser  einige Jahre lang mit der DKP flirtete, Peter Weiss sich zum Kommunismus bekannte, Erich Fried fast im Akkord Gedichte auf die Revolutionen aller Kontinente verfertigte, blieb Reich-Ranicki ein unbeirrbarer Verteidiger der liberalen Demokratie – schon weil er sie dem Geist permanenter Kritik verpflichtet sah“, kommentiert Wittstock. Nichts war Reich-Ranicki verhasster als politische Lyrik und Gefälligkeitsliteratur. „Wer in diesem Land ein Schriftsteller sein will, doch nicht schreiben kann, der wendet sich geradezu automatisch der Gesellschaftskritik zu“, notierte er  trocken und formulierte gleichsam nebenbei ein Grundprinzip literarischer Korruption, die heute aktueller denn je ist. Wenn man in dem Zitat „Gesellschaftskritik“ im Jahre 2021 durch „Kampf gegen rechts“ ersetzt, hat man eine perfekte Beschreibung der heutigen Verhältnisse. Dieser Gedanke findet sich natürlich nicht in Wittstocks Buch, sondern stammt von mir. Schande auf mein Haupt.

Immerhin litt Großkritiker unter dem Chor seiner Verächter. »Sie schreiben eine scharfe, vollkommen ehrliche und damit natürlich auch unbarmherzige Kritik«, tröstete ihn ein Freund. „Wie können Sie erwarten, damit beliebt, geehrt und sozusagen in Ämter der Literatur gehoben zu werden?“

Der Herr der Bücher (Bild aus dem besprochenen Buch)

Als 1973 Dieter E. Zimmer Rudolf Walter Leonhard als Feuilletonchef ablöste, wurde Marcel Reich-Ranicki nicht Literaturredakteur, was er in seiner Erbitterung unberechtigtererweise auf latenten Antisemitismus zurückführt. Umso bereitwilliger nahm er das Angebot von Joachim Fest an, als Literaturchef zur FAZ zu wechseln, wo er sich neu erfindet.  „Er wandelte sich mit seinem Wechsel von der Zeit zur FAZ ohne sichtbare Probleme vom Solisten zum Dirigenten“, kommentiert Wittstock. „Hatte er zuvor nur durch seine Rezensionen, Kommentare, Polemiken Einfluss ausüben können, stand ihm nun ein ganzer Apparat zur Verfügung. Und er war nicht der Mann, sich eine solche Chance entgehen zu lassen. Er knüpfte Beziehungen, warb um Verbündete, machte hinter den Kulissen des Literaturbetriebs Stimmung und organisierte lautstarke Debatten.“ Die Redaktion ertrug ihn, obwohl es nach wie vor Vorbehalte gegen seine Eitelkeit und seine Kontrollwut gab. Dazu berichtet der Autor eine bezeichnende Anekdote. »Vor Beginn einer Feuilleton-Konferenz – man wartete noch auf den Herausgeber – hatte sich ein lebhaftes Gespräch über die Frankfurter Eintracht (den Fußballverein) entwickelt. Immer wieder fiel der Name Hölzenbein. Reich-Ranicki, rasch verstimmt, weil er zu dem Gespräch nichts beitragen konnte, polterte schließlich los: ›Hölzenbein! Wer ist Hölzenbein? Ich kenne diesen Mann nicht! ‹ Darauf antwortete der Filmkritiker Michael Schwarze: ›Der kennt Sie auch nicht.‹ Großes Gelächter. «

War Marcel Reich-Ranicki in der Gruppe 47 ein eher konservativer Gesprächsteilnehmer gewesen, so hielt er bei der FAZ den linksliberalen Autoren die Treue. Er optierte gegen den Radikalenerlass und verteidigt zum Beispiel Erich Fried, der 1977 auf dem Höhepunkt des RAF Terrors sinngemäß geschrieben hatte, „es sei ein Fehler gewesen, Buback zu ermorden; man hätte Friedrich Karl Fromme [einen leitenden Redakteur des innenpolitischen Ressorts] von der FAZ ermorden sollen.“

Als Literaturchef der FAZ wurde Reich-Ranicki zum „Literaturpapst“, und niemand kam an ihm vorbei. Umso erstaunlicher, dass er nie dazu eingeladen wurde, Mitglied einer der sechs deutschen Akademien für Dichtung zu werden. Kein Wunder, wenn man die folgenden Sätze liest. „So geht es doch wohl nicht weiter“, wetterte Reich-Ranicki gegen die deutsche Akademie für Dichtung. „Eine wichtige Institution ist auf dem Wege, ein Panoptikum zu werden, jedenfalls ein Altherrenverein, dessen Vertrottelung teils komisch, teils ärgerlich scheint.«

Aber am Marcel Reich-Ranicki brauchte die Akademie nicht, um öffentlichkeitswirksam zu sein. 1977 gründete er den Ingeborg Bachmann-Wettbewerb in der Nachfolge der Gruppe 47. Noch medienwirksamer wurde das „Literarische Quartett“, das Marcel Reich-Ranicki ab 1987 leitete und das der Literatur eine bis dahin ungeahnte Aufmerksamkeit bescherte.

Stieg Marcel Reich-Ranickis auch immer weiter den Kritiker-Olymp empor, so wurde die Zahl seiner Gegner nicht weniger. Über Heinrich Böll, der Marcel Reich-Ranicki selbstlos bei seiner Übersiedlung nach Deutschland unterstützt hatte, hieß es an einer Stelle herablassend: „Er nötigt uns, mit dem Vortrefflichen und dem Unvergesslichen fast immer auch das Schwache, oft Misslungene, bisweilen das Peinliche hinzunehmen.« Auch Fritz Raddatz , der Feuilletonchef der ZEIT bekommt ein Fett weg, als über die Verstrickung deutscher Autoren mit dem NS Regime jammerte. Nicht, „ob“ einer zwischen 1933 bis 1945  veröffentlicht hatte,  sei wichtig, widersprach Reich-Ranicki sondern „was“ er veröffentlicht hatte. Auch dieses Kriterium ist heute völlig aus der Mode gekommen, Heute ist das „was“ nicht mehr wichtig, sondern nur noch das „wo“. Autoren, die in konservativen Blättern wie „Tichys Einblick“ oder der „Jungen Freiheit“ publizieren, versperren sich alle Türen.

Von besonderem literaturgeschichtlichem Interesse ist die Nachzeichnung der Rolle, die Marcel Reich-Ranicki als scheinbar konservativer Literaturpapst im Zusammenhang mit der stetigen Linksdrift des kulturellen Lebens spielte. Diese Linksdrift erlebte ihre erste große Dünung im Zuge des „Historikerstreits“, als der Historiker Ernst Nolte  in einem großen FAZ Artikel darauf hinwies, dass ein Teil der nationalsozialistischen Wahnvorstellungen durch das Blutbad zu verstehen (nicht zu entschuldigen) sei, das die Bolschewiki im Zuge der russischen Revolution angerichtet hatten.   Jürgen Habermas nahm das zum Anlass, das Dogma von der Einmaligkeit der deutschen Schuld gleichsam zu kanonisieren, was zu einer heftigen Debatte innerhalb der Historiker- und Philosophenzunft führt. Darüber, dass der FAZ Herausgeber und Marcel Reich-Ranicki-Förderer Joachim Fest in diesem Streit mit guten Gründen die Partei Noltes ergriff, zerbrach Marcel Reich-Ranickis Beziehung zu Fest. Rückblickend muss man sagen, dass der Vorwurf der „Einseitigkeit“, den Marcel Reich-Ranicki Fest gegenüber erhob, ein wenig naiv wirkt, weil die andere Seite  noch viel einseitiger war.

Zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki stimmte die Chemie von Anfang an nicht. Grass stieß sich an Marcel Reich-Ranickis Fachkritiker-Attitüde und bestand auf  Augenhöhe. Gerade die wollte ihm Reich-Ranicki nicht zubilligen: „Ein Zeichen der Krise mag es auch sein, dass die deutschen Kritiker bisweilen besser schreiben als die Autoren, mit denen sie sich beschäftigen.“ Und gleich hinterher: „So ist das: Wenn Seuchen um sich greifen, werden die Ärzte immer wichtiger.“ Im Zusammenhang mit Grass unterlief Marcel Reich-Ranicki allerdings auch seine größte Fehlleistung an Kritiker, als er „Die Blechtrommel“ verriss und sich später angesichts des Welterfolges zähneknirschend korrigieren musste. Wahrscheinlich war er froh dass Grass später so „Ein weites Feld“ schrieb, das er mit gutem Grund zerreißen konnte.

Für Marcel Reich-Ranicki schmerzhafter als der Dissens mit Grass war der Bruch mit Walter Jens. Wenn Marcel Reich-Ranicki überhaupt jemals einen wirklichen Freund gehabt hatte, dann war es Walter Jens. gewesen. Fast 30 Jahre lang zogen beide am selben Strang und telefonieren fast täglich miteinander. „Dass es in unserer Freundschaft innerhalb von dreißig Jahren auch Krisen gab, versteht sich von selbst“, notierte Marcel Reich-Ranicki. „Doch haben wir nie vergessen, was wir aneinander hatten. Es gab Zeitabschnitte, in denen die Telefongespräche mit Walter Jens die Höhepunkte meines Lebens waren.“   Die Entfremdung zwischen Jens und Reich-Ranicki begann damit, dass  Reich-Ranicki nicht Walter Jens, sondern Helmut Karasek und Sigrid Löffler zu Dauergästen des Literarischen Quartetts bestimmte. Der Konflikt eskalierte weiter anhand der Bewertung von regimeaffinen Autoren in der DDR, die bei Marcel Reich-Ranicki schlecht weg kamen.  Als Walter Jens´ Sohn Tilman in einer Literaturstudie nachwies, dass Marcel Reich-Ranicki selbst im Kommunismus keineswegs ein so  mutiger Oppositioneller gewesen war, wie er es von Christa Wolf und anderen erwartete, brach der Streit offen aus, Er fand seinen Höhepunkt als eine Fernsehreihe erstmals Reich-Ranickis Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst thematisiert wurde.  Als sich Jens und  Reich-Ranicki 2003 wieder um Versöhnung bemühten, hatte bei Jens bereits die Demenz begonnen, die es unmöglich machte, die alten Kontakte wieder herzustellen.

Sigrid Löffler

Ein eigenes Kapitel widmet der Autor dem literarischen Quartett, dass Reich-Ranicki auf die Zenit seines Ruhms hebt.  War er früher „Großkritiker“ und „Literaturpapst“ gewesen, wird er nun zum „Popstar“. Dass das literarische Quartett zur  Trivialisierung neigte, gab Reich-Ranicki selbst zu, auf der anderen Seite leistete es Unvergleichliches in der Popularisierung des Interesses an guten Büchern –  auch, weil diese Bücher aus verschiedenen Blickwinkeln vorgestellt wurden. Der Konflikt mit Sigrid Löffler, die ihm mindestens gleichwertig war, wird nur kurz erwähnt.

Marcel Reich-Ranickis Autobiografie „Mein Leben“ erschien 1999 und wurde mit 1,4 Millionen verkauften Exemplaren ein gigantischer Erfolg. Marcel Reich-Ranicki befand  sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere als der Konflikt mit Martin Walser  ausbrach.  Er reichte zurück bis in die späten Fünfziger Jahre, als Walser zusammen mit anderen Autoren versucht hatte, Marcel Reich-Ranicki aus dem der  Gruppe 47 herauszudrängen. Walser bemängelte an Reich-Ranicki einen unangemessenen Maßstab der Kritik, wobei er sich gerne auf Goette berief, „nur derjenige, der ihn liebe, habe auch das Recht, ihn zu beurteilen“.  Außerdem stört isch Walsers an Reich Ranickis Spontanurteilen. „Der Intellekt müsste als ein verschlafener Wiederkäuer organisiert sein“, verlangte Walser. „Sobald man über ein Buch oder über ein Gedicht eine Meinung hat, ist das Buch oder das Gedicht aller weiteren Wirkungsmöglichkeiten beraubt.“ Auf der anderen Seite hatte Marcel Reich-Ranicki nie ein Hehl daraus gehabt gemacht, dass er von Walsers literarischen Fähigkeiten nicht viel hielt. Sein Verriss von „Jenseits der Liebe“ ist geradezu klassisch geworden, das Buch wurde trotzdem oder gerade deswegen zum Bestseller. Als am Marcel Reich-Ranicki dagegen „Das fliehende Pferd“ himmlisch besprach, kam zu holprigen  Freundschaftsversuchen, deren Unehrlichkeit sich im nachherein aus Walzers Tagebüchern ergibt. Die Gegensätze brachen erneut auf als Walzer „Ein springender Brunnen“ veröffentlichte, einen Roman über seine eigene Kindheit im Nationalsozialismus, in dem er es an der pflichtgemäßen Dämonisierung dieser Zeit fehlen ließ. Obwohl alle Rezensenten des Literarischen Quartetts dieses Buch einhellig zerrissen, wurde es 200.000-mal verkauft. Als Walser kurz darauf in seiner Büchnerpreis-Rede die Ritualisierung der „Auschwitz-Keule“ kritisierte, geriet er unter verschärften Beschuss des kulturellen Establishments, die derart exzessiv daherkam, dass Marcel Reich-Ranicki sich herbeiließ, Walser zu verteidigen, was diesen wiederum rasend machte. So empfindsam können Alpha-Tiere sein, denkt der Leser an dieser Stelle.  Weiß der Geier, was Walser geritten hat, anschließend seinen Roman „Tod eines Kritikers“ zu veröffentlichen, eine Abrechnung mit einem fiktiven Marcel Reich-Ranicki, die amüsant zu lesen ist, aber komplett nach hinten losging. Walser wurde von Frank Schirrmacher, Marcel Reich-Ranickis Nachfolger bei der FAZ, in bösartigster Weise des Antisemitismus bezichtigt, womit die Debatte entschieden war. Danach war das Tischtuch zwischen Walser und Reich-Ranicki für immer zerschnitten. Walser aber publizierte weiter und siegte wenigstens auf einem Feld: Er lebt noch immer und wirft Jahr für Jahr Bücher auf den Markt, die zwar nicht immer gut, aber fast alle erfolgreich sind. 

Ein Jahr von Reich-Ranickis Tod führte Wittstock mit dem 92jährigen Marcel Reich-Ranicki ein letztes Gespräch und fragte ihn nach Alter, Sterben und Tod und erhielt folgende Antwort: „Lassen Sie sich nichts erzählen von Altersweisheit oder Altersmilde. Das ist sentimentales Geschwätz. Das Alter ist fürchterlich. Es raubt einem nach und nach alles, was einem lieb und wichtig war, alles, worauf man glaubte, sich verlassen zu können. Philip Roth, der große amerikanische Schriftsteller, sagte einmal: Das Alter ist ein Massaker Roth hat recht. Im Alter stehen wir einem übermächtigen Gegner gegenüber, wir sind allein und werden immer schwächer. Dieser Gegner, die Zeit, wird immer stärker, und sie vernichtet nach und nach immer mehr von uns, ohne dass wir uns wehren können, bis sie uns schließlich ganz auslöscht. Einen Vorteil sehe ich da nicht.“

Bewertung: Marcel Reich-Ranicki Leben kann nicht verstanden werden, ohne die Frage nach seine Rolle bei der Entstehung der kulturellen Hegemonie der Linken, die sich ab den achtziger Jahren  immer uneingeschränkte manifestierte. Rückblickend werden allerdings auch seine Verdienste deutlicher: Reich-Ranicki war wenigstens zeitweise ein Bollwerk gegen den vollständigen Sieg der engagierten Literatur über die Qualität gewesen. Als Gegner des Marxismus konnte er eine Zeitlang Ross und Reiter nennen, ohne einen Shitstorm befürchten zu müssen. Bleibt die Frage, warum er bei der Machtergreifung des linken Mainstreams insgesamt trotzdem eine unterstützende Rolle gespielt hat? Die Antwort liegt in seiner jüdischen Identität, die ihn äußerst sensibel auf alle Normalisierungstendenzen des deutschen Geschichtsverständnisses reagieren ließ. Insofern konnte die Linke zum Beispiel Reich-Ranickis nachvollziehbare Befürchtungen im Kontext der Paulskirchenrede hervorragend für den weiteren Ausbau ihre Hegemonie instrumentieren. Er war Hemmnis und Förderer der kulturelle Linksverschiebung zugleich, das aber auf einem ungleich bedeutenderen Niveau als sein maßlos überschätzter  Nachfolger Frank Schirrmacher, der die FAZ ins linke Lager führte, womit die er die intellektuelle Homogenisierung der linken Republik vollendete.


 

 

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