Manche Bücher stehen jahrzehntelang im Regal wie eine Drohung, dass man Ihnen nicht gewachsen ist. Bei dem wuchtigen Werk „Schau heimwärts, Engel“ von Thomas Wolfe kam die Winzigkeit der Buchstaben hinzu. Erst als ich schon eine starke Brille brauchte, um zu lesen, erst als eine Reise nach Asheville, dem Geburtsort von Thomas Wolfe bevorstand, griff ich zu dem Buch. Es war die Zeit, in der ich weniger las als früher. Ich hatte begriffen, dass gute Literatur wie gutes Essen langsam genossen werden will. Diese Einstellung passte zu zu dem Buch.
Ich merkte sofort, dass ich etwas Besonderes vor mir hatte, einen Autor mit großer Sprachkraft und langem Atem, einem altertümlichen, allwissenden Erzähler, der in die seelischen Nischen seine Figuren hinein schaut und dem nichts verborgen bleibt (und dass, obwohl der Autor noch recht jung war, als er den Roman schrieb). Die Geschichte spielt an der Grenze von North Carolina und Kentucky, in den „dunklen Bergen“ von Altamont (Asheville). In ihrem Mittelpunkt steht die Familie Gant, zuvörderst der redselige, gutmütige, trinkfreudige Steinmetz Oliver Gant und seine Frau Eliza, die bei allem Plagen in der Liebe zu ihrem Mann nicht irre wird. „Sie erinnerte sich immer an die herrliche, die ungeheure Leuchtkraft des Lebens in ihm, sie dachte stets an das Verlorene, Verschüttete ihn ihm, das er nicht finden konnte.“ Der Roman ist im Duktus resignativer Trauer verfasst, in dem Wissen um die Vergeblichkeit allen Tuns. Das Leben lastet auf den Menschen wie eine Bürde, die sie Tag für Tag bewältigen müssen. Bitter ist es, schließlich im fortgeschrittenen Alter einsehen zu müssen, dass die Träume, die dereinst das Leben erhellten, nicht mehr wahr werden würden.
Jeden Morgen, während des ersten Morgenkaffees lese ich meine Ration Thomas Wolfe „Schau heimwärts Engel“. Inzwischen ist die Erzählung bei Oliver Gants Söhnen angekommen. „In der Dunkelheit seiner Seele befangen, wie ein fremder Gast in einer lärmenden Schänke, brütet Eugen beim Schein des Kaminfeuers über Büchern.“ So viel über den kleinen Eugen. Sein älterer Bruder Ben hält die Hand über ihn, der älteste Bruder Lukas ist ein Heuchler.
Eugen, das Alter Ego des Erzählers, wächst heran und ist sich selbst ein Problem. „Vor seiner Vernunft kam er sich vor wie ein Wahnsinnige, der sich für Cäsar hielt. Er verrenkte den Hals, wandte den Kopf ungelenk zur Seite und schlug die Hand vors Gesicht“. Zugegeben: manchmal quillt die Erzählwut ins Pathetisch, aber meistens verblüfft sie durch die Sprachgewalt ihrer Bilder, vor der sich jeder, der selbst zu schreiben versucht, verneigen muss. Der weitere Verlauf der Handlung ähnelt dann ein wenig dem Mississippi, er mäandert mal hierhin, mal dorthin und mündet am Ende nicht in ein schlüssiges Finale sondern einfach in dem Abschied des Protagonisten aus seiner Heimatstadt.
Am Ende war ich ein wenig erschöpft wie jemand, der von einem guten Essen zu viel gegessen hat. Satt geworden bin ich nicht unbedingt von der Handlung, sondern von der Sprache, auch wenn ich sagen muss, dass deren Opulenz auf die Dauer ein wenig Sehnsucht nach Hemminwgay hervorruft.